So manche Vorstellung, die man vielleicht darüber hatte, wie so eine Virusübertragung von einem Menschen auf den anderen passiert, ist bei näherer Betrachtung komplexer als zuerst gedacht. Eine davon ist, dass ein Infizierter zwei bis drei andere Menschen ansteckt. Das ist nämlich nur ein Durchschnittswert. Dahinter können sich dramatische Ausreißer verstecken - sprich Virusträger, die eine ungewöhnliche hohe Anzahl anderer Menschen anstecken. Diese Individuen nennt man in der Epidemiologie Superverbreiter.
Die gibt es wohl auch bei der Coronavirus-Epidemie, wie man am Montag in De Standaard lesen kann. Beispiele hierfür sind der Barmann im österreichischen Ski-Ort Ischgl, der 15 Besucher ansteckte. Oder ein Fall in Südkorea, als bei einer Zumbastunde 65 Teilnehmer krank wurden. In Washington infizierte ein Sänger während einer Chorprobe sogar 51 von 60 Kollegen. Und gerade erst gab es den Fall eines Restaurants in Niedersachsen.
Die London School of Hygiene and Tropical Medicine beispielsweise hat aus Daten aus China ein Modell berechnet, das der Mikrobiologe Prof. Dr. Herman Goossens von der Universität Antwerpen in Radio Eén erklärte: 80 Prozent aller Infektionen würden demnach durch nur zehn Prozent der Infizierten verursacht.
Kein Konsens
Diese Zahlen sind aber erst einmal mit Vorsicht zu genießen, in der entsprechenden Fachliteratur bestehe darüber kein Konsens. Und andere Wissenschaftler sagten, dass die Rolle der Superverbreiter vielleicht doch nicht so extrem sei. De Standaard listet in seinem Artikel aber jedenfalls auch noch Fallbeispiele aus Israel und Hongkong auf, die zumindest die Theorie untermauern könnten. Und Dr. Goossens bestätigte, dass es Fälle, in der eine Person überproportional viele andere anstecke, existierten. Für diese Ereignisse könne es verschiedene Gründe geben, das mache eine Untersuchung des Phänomens auch schwierig.
Eine der Möglichkeiten sei, dass ein Infizierter ein Aerosol produziere, also quasi eine Art Wolke aus kleinsten schwebenden Virenpartikeln. Nicht zu verwechseln mit der klassischen Tröpfcheninfektion, deren effektive Reichweite viel geringer ist, und für die der berühmte Sicherheitsabstand von anderthalb Metern gilt. Aerosole könnten eine deutlich höhere Distanz überwinden.
Über lautes Singen oder Rufen könnten sich mehr Viren in Aerosol-Form verbreiten, wie zum Beispiel die Markthändler. Aber nicht nur Markthändler können so ungewollt zu Superverbreitern werden: Auch Personen, die viel und heftig atmen, wie es unter anderem in einem Fitnesscenter der Fall sein kann. Neben dem Benehmen können aber auch die lokalen Gegebenheiten eine Superverbreitung begünstigen. Stichwort Menschenansammlungen und Großveranstaltungen.
Neben dem reinen Verhalten und den Umständen, die man entsprechend anpassen kann, könne es aber auch Menschen geben, deren Körper schlicht deutlich mehr Viren ausscheiden als andere, so Goossens.
Auch eine gute Nachricht
Paradoxerweise ist das Phänomen von Superverbreitern aber auch eine gute Nachricht - zumindest teilweise. Wenn man solche Personen identifizieren und isolieren könne, könne das die Ausbreitung des Virus stark bremsen, wie De Standaard betont. Sie würden sicherlich auch zu den ersten gehören, die man, wenn es ein entsprechendes Mittel gibt, impfen würde.
Außerdem seien alle bekannten Fälle in geschlossenen Räumen mit schlechter Belüftung aufgetreten, wie Goossens in der VRT erklärte. Das sei sehr wichtig für den Sommer. Das Gebot müsse sein, möglichst viele Aktivitäten draußen durchzuführen. Wenn man sich doch drin aufhalten muss, zum Beispiel im Winter: immer für eine gute Luftzufuhr sorgen. Diese Lehren solle auch der Horeca-Sektor verinnerlichen, sprich möglichst viel die Terrassen nutzen und bei Innenräumen auf die Luftzirkulation achten.
Boris Schmidt