"Unsere Tochter könnte noch leben". Das ist die traurige Quintessenz des Offenen Briefes, den die Familie von Julie Van Espen jetzt veröffentlicht haben. Julie Van Espen könnte noch leben, "wenn bei der Justiz alle zuständigen Leute ihre Verantwortung übernommen hätten", präzisieren die Angehörigen. Und tatsächlich: Diese schreckliche Feststellung ist nur schwerlich zu leugnen.
Am 6. Mai 2019 bricht die Welt der Familie Van Espen zusammen. Es gibt die traurige Gewissheit: Ihre Tochter Julie ist tot. Seit knapp zwei Tagen wurde die 23-Jährige vermisst.
Julie war am helllichten Tag mit dem Rad unterwegs von ihrem Wohnort Schilde ins nahegelegene Antwerpen. Auf halbem Weg in Merksem hatte sich ihr Handy das letzte Mal in eine Funkzelle eingeloggt. Danach: Nichts mehr. Julie war wie vom Erdboden verschluckt. Bis eben knapp zwei Tage später ihre Leiche im Albertkanal entdeckt wurde, unweit des Radweges, den sie genommen haben muss.
Der Täter konnte wenig später aber schon gefasst werden. Es handelte sich um den 39-jährigen Steve Bakelmans. Der allerdings war alles andere als ein unbeschriebenes Blatt: Ein ellenlanges Strafregister, aber vor allem zwei Verurteilungen wegen Vergewaltigung. Schlimmer noch: Eigentlich hätte Bakelmans zum Tatzeitpunkt im Gefängnis sitzen müssen.
2017 war er zum zweiten Mal wegen Vergewaltigung verurteilt worden, und zwar zu einer Haftstrafe von vier Jahren. Das Gericht ordnete aber nicht seine sofortige Festnahme an. Und Bakelmans selbst ging gegen das Urteil in Berufung. Das heißt, dass das Urteil nicht rechtskräftig war und er auf freiem Fuß blieb. Und so blieb es auch 23 Monate lang. Einer der Gründe war anscheinend, dass das Antwerpener Berufungsgericht aus Kostengründen eine Kammer hatte schließen müssen.
Dennoch: Ein verurteilter Vergewaltiger läuft fast zwei Jahre frei herum, weil sein Berufungsverfahren noch immer nicht stattgefunden hat. Und dann bringt er auch noch eine junge Frau um. Das ist nicht zu vermitteln. Und genau das sagen mit anderen Worten jetzt auch die Angehörigen von Julie Van Espen.
Grundlage ist ein Gutachten des Hohen Justizrates. Das Gremium hatte der Justiz im Mordfall Julie Van Espen nämlich auch schon ein desaströses Zeugnis ausgestellt und eine Reihe von Fehlleistungen aufgelistet. Doch nach Ansicht der Familie Van Espen ist der Hohe Justizrat da noch nicht deutlich genug gewesen, sagte deren Anwalt John Maes in der VRT. Seine Mandanten seien da nochmal wesentlich kritischer. Ihrer Ansicht nach gibt es kein Vertun: Wenn nicht so gravierende Fehler gemacht worden wären, dann würde Julie mit Sicherheit noch leben.
In der Folge listet die Familie eine Reihe von Prioritäten auf, die ihrer Ansicht nach am schnellsten umgesetzt werden müssen, um zu verhindern, dass sich eine solche Tragödie wiederholt. Beispiele: Eine beschleunigte Digitalisierung, eine bessere Überwachung von Sexualstraftätern, auch nach Verbüßen ihrer Haftstrafe, und vor allem: ein neues Kontrollorgan für die Justiz. Nennen wir es mal ein Komitee J. Nach dem Vorbild des Komitee P, das für die Polizeidienste zuständig ist, oder des Komitee R, das den Nachrichtendiensten auf die Finger schaut.
Ein Komitee J also. Ein neues Aufsichtsorgan. Und das sollte nach Ansicht der Familie Van Espen auch die Möglichkeit haben, Magistrate zu bestrafen, wenn sie offensichtliche Fehler gemacht haben. Die Reaktionen auf diese Forderung sind durchwachsen. Zwar können viele Parteien grundsätzlich die Kritik und auch die Forderungen der Familie nachvollziehen. Ob jetzt aber wirklich ein neues Aufsichtsgremium geschaffen werden muss, an dieser Frage scheiden sich die Geister. Wer zum Beispiel würde denn in einem solchen Gremium tagen? Politiker? Das könnte gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung verstoßen.
Im Großen und Ganzen geht es hier aber vor allem ums Geld. Der amtierende Justizminister Koen Geens hat selbst schon mehrmals unterstrichen, dass die nächste Regierung das Budget der Justiz dringend aufstocken muss. Und dass er sich auch dafür einsetzen werde.
Die Familie Van Espen werde in jedem Fall nicht lockerlassen, sagt ihr Anwalt John Maes. Hier müsse etwas passieren, das sei die Botschaft seiner Mandanten. Und die Familie werde es nicht bei diesem Brief belassen.
Roger Pint