Gegen 1 Uhr in der Nacht verliest der vorsitzende Richter die Entscheidung: Freispruch auf der ganzen Linie für alle drei Ärzte, die auf der Anklagebank saßen. Es gibt spontanen Applaus von den Zuschauern, was sehr unüblich ist und was der Vorsitzende auch sofort unterbindet.
Die ganze Geschichte beginnt vor knapp zehn Jahren. Am 27. April 2010 scheidet Tine Nys mit 38 Jahren aus dem Leben. Sie hatte Sterbehilfe beantragt. Begründung: "unerträgliche psychische Leiden". Für sie muss sich ihr Leben angefühlt haben wie eine höllische Achterbahnfahrt, eine Anreihung von psychischen Problemen, immer wieder fällt sie in ein tiefes Loch.
Irgendwann will Tine nicht mehr. Und sie findet die vom Gesetz vorgeschriebenen drei Unterschriften: drei Ärzte, die den Antrag auf Sterbehilfe absegnen. Am 27. April 2010 nimmt also ein Arzt den unwiderruflichen Akt vor.
Ihre Familie hat das nie akzeptieren wollen. Für die Angehörigen von Tine Nys waren nicht alle gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien erfüllt. Sie reichten Klage ein, nach einigen Rückschlägen und einer regelrechten Odyssee landete der Fall dann doch vor einem Schwurgericht. Und damit eben auch besagte drei Ärzte auf der Anklagebank.
Gut zweieinhalb Wochen hat das Verfahren gedauert. Zweieinhalb Wochen, die allen Beteiligten fast das Äußerste abverlangt haben. Auf der einen Seite die Familie, die die tragische Geschichte noch einmal durchleben musste - auf der anderen Seite drei Ärzte, die seit Jahren im Fokus der Öffentlichkeit stehen und die jetzt sogar eine Verurteilung wegen Mordes riskierten.
Ihnen war nach dem Freispruch natürlich die Erleichterung anzusehen. Das gilt zum Beispiel für Joris Van Hove. Er war der Arzt, der die eigentliche Sterbehilfe geleistet hat. Zehn Jahre habe er mit der Unsicherheit leben müssen. Einfach sei das nicht gewesen. Aber das gelte wohl für alle, aus diesem Prozess komme niemand unbeschadet heraus.
"Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht erleichtert bin", sagte sichtbar glücklich die Psychiaterin Godelieve Thienpont. Nicht nur für mich, auch für meine Kinder und Enkel ist das unglaublich wichtig. Und ganz nebenbei auch für die Euthanasiegesetzgebung.
Für ihren Anwalt ist der Freispruch eigentlich nur logisch. Mal ehrlich, sagte Jef Vermassen in der VRT: Selbst die Staatsanwaltschaft habe festgehalten, dass die Psychiaterin in guter Absicht gehandelt habe. Sie wollte ihrer Patientin helfen, damit war eine Verurteilung wegen Mordes eigentlich schon ausgeschlossen
Euthanasie auf dem Prüfstand
Aber, wenn die Psychiaterin sagt, dass das auch eine gute Nachricht für die Euthanasie-Gesetzgebung als solche ist, dann legt sie den Finger in die Wunde. Denn es gab noch eine "dritte Partei" in dem Prozess: diejenigen, die seit jeher Kritik geübt haben an der Legalisierung der Sterbehilfe. In dem Prozess stand auch die Euthanasie-Gesetzgebung als solche zumindest auf dem Prüfstand. Wobei, wie es die Zeitung De Standaard formuliert, es am Ende kein Prozess gegen die Euthanasie war.
Walter Van Steenbrugge, der einen der Ärzte vertreten hat, schlägt genau in diese Kerbe. Das Urteil sei nicht nur eine Erleichterung für seinen Mandanten, sondern für alle Ärzte, die solche Entscheidungen treffen müssen. Wenn es hier einen Schuldspruch gegeben hätte, dann hätte das viele Ärzte in eine schwierige Situation gebracht.
Aber der Schaden ist eigentlich schon angerichtet. Wie die Zeitung De Standaard berichtet, haben acht von zehn Ärzten angegeben, dass der Prozess sie tief beunruhigt habe. Viele von ihnen hätten jetzt Tendenz dazu, von Anfragen auf Sterbehilfe die Finger zu lassen.
Roger Pint