Die Situation hat etwas von einer Intensivstation im Krankenhaus. Ein Patient in kritischen Zustand. Symptomatische Behandlung. Während die einen nur noch wenig Hoffnung auf Überleben des Patienten haben, wollen andere nicht aufgeben und halten Atropin und Defibrilator bereit, um im Falle eines Herzstillstandes wiederbeleben zu können. Am Mittwoch schien es dem Patienten kurzfristig besser zu gehen, heute scheinen die Überlebenschancen wieder geschrumpft zu sein. Man muss abwarten - doch das ist schwer - fast zu schwer.
Dass der Parteichef der neuen flämischen Allianz, Bart De Wever, im Grunde nur wenig Geduld hat und dies jetzt auch noch einmal durch die Vorgabe eines Ultimatums bei den Gesprächen über eine Novellierung des Finanzierungsgesetzes klar gemacht hat, ist eines.
Was anderes, dass jetzt auch PS-Parteichef Di Rupo der Geduldsfaden zu reißen scheint. Von der PS kommt erstmals seit Beginn der Gespräche nach den Wahlen unverhohlen Kritik an Bart De Wever und der N-VA. Stehen die Gespräche zwischen den beiden Wahlgewinnern vom 13. Juni deshalb endgültig vor dem Aus? An die Stelle des Vertrauens scheint jedenfalls Misstrauen getreten zu sein. Und das vergiftet die Atmosphäre.
Man kann sich die Frage stellen, ob die lebensverlängernde Intensivmedizin für die Gespräche zwischen PS und N-VA weiterhin nützlich ist und ob eine Wiederbelebung im Falle des Herzstillstands unter den derzeitigen Voraussetzungen überhaupt Sinn macht. Ein Ergebnis dieser Verhandlungen erscheint nämlich heute mehr denn je fragwürdig.
Warum? Nun, es sieht immer mehr danach aus als müsse man sich fragen, ob Bart De Wever einem Kompromiss und einem Abkommen überhaupt zustimmen will oder kann - ob der N-VA-Vorsitzende nicht jedes Mal, wenn er zusammen mit Elio Di Rupo einen für beide akzeptablen Weg abspricht, von den Hartlinern aus seiner Partei zurückgepfiffen und seiner Kompromissfähigkeit dadurch beraubt wird, oder ob De Wever versucht, ein Scheitern der Gespräche in ihrer derzeitigen Form, bzw. Besetzung zu provozieren, um die Verhandlungspartner teilweise austauschen und die Liberalen mit ins Boot holen zu können.
Wie dem auch sei, die derzeitige Situation scheint nicht wirkliche positive Fortschritte zu stimulieren. Das liegt vermutlich auch daran, das es an Deutlichkeit fehlt - Deutlichkeit darüber, ob man nun oder nicht miteinander zu einem Kompromiss kommen will - diese Deutlichkeit müssten die Politiker erst einmal untereinander schaffen. Sie schulden die Deutlichkeit aber auch den Wähler also uns Bürgern.
Vielleicht müssen es Elio, Bart und die anderen mit einer klareren Zielvorgabe versuchen. Eine tiefgreifende aber kontrollierte und ausgeglichene Veränderung in Belgiens bundesstaatlichem Modell. Hin zu mehr finanzieller Verantwortung auf der gliedstaatlichen Ebene. Mit dem von allen Sprachgruppen gleichermaßen angestrebten Ziel, zu vier gleichberechtigten Teilstaaten im Land zu kommen, ein Land, das dadurch sein Antlitz deutlich verändern wird dessen föderales Modell aber weiter lebensfähig ist. Das wird Geld kosten, Kompromissfähigkeit fordern und einen klaren und aufrichtigen Umgang der verantwortlichen Politiker wie Di Rupo, De Wever und Ko fordern. Doch der hohe Einsatz scheint mir gerechtfertigt.
Wenn der Patient auf der Intensivstation, von dem Eingangs in meinem Vergleich die Rede war, nämlich nicht mehr symbolisch die bislang geführten Gespräche zur Vorbereitung der Regierungsbildung sind, sondern es der Staat Belgien ist, dann darf es unter keinen Umständen durch das derzeitige Herumdoktern so weit kommen, dass es am Ende heißt: Operation gelungen, aber Patient tot.
bild:belga archiv