Es ist Lutgart Simoens, die den Finger in die Wunde gelegt hat. In Flandern ist sie gewissermaßen eine Institution: Die Frau war jahrzehntelang eine bekannte Rundfunkstimme im Radio 2 der VRT. Heute ist sie 91. "Rüstig" ist sie noch, wie man sagt, sowohl körperlich als auch geistig noch in relativ guter Verfassung.
"Nur, wie lange noch?", würde sie wohl erwidern, wenn man ihr die für ihr Alter erstaunliche Fitness bescheinigen würde. Denn: Lutgart Simoens ist offensichtlich davon überzeugt, dass es mit ihr ab jetzt nur noch bergab gehen kann.
"Ich will selbst entscheiden, wann ich gehe", sagte sie am Wochenende in einem viel beachteten Interview in der Zeitung Het Laatste Nieuws. Und sie fügt einen doch schonungslos deutlichen Satz hinzu: "Für mich war's das!".
In der VRT hat sie das später nochmal wiederholt: "Wissen Sie, ich habe doch alles gehabt, was ich mir gewünscht habe: Kinder, einen tollen Job, die Liebe, einfach alles. Ich habe das auch noch keinen Moment bereut. Für mich war's das aber; mein Leben ist erfüllt. Und wenn man zu diesem Schluss gelangt ist, dann möchte man auch selbst entscheiden können, wann es zu Ende sein soll."
Heißt im Klartext: Lutgart Simoens möchte nach einem erfüllten Leben einen Schlussstrich ziehen, genauer gesagt: Ihn selbst ziehen können. Konkret: Sie würde gerne Sterbehilfe beantragen. Das allerdings ist im Moment nicht möglich. Zwar gibt es in Belgien die gesetzliche Möglichkeit, Euthanasie in Anspruch zu nehmen. Nur müssen dafür natürlich gewisse Bedingungen erfüllt sein.
Die wichtigste, grob gerafft: Man muss unheilbar krank sein und unerträgliche Schmerzen empfinden. Das lässt zwar bis zu einem gewissen Maß Interpretationsspielraum zu. Nur ist Lutgart Simoens nunmal nicht unheilbar krank. Bei ihr ist es wohl eher so, dass sie die Aussicht auf Krankheit und Leiden als unerträglich empfindet.
"Muss ich denn erst krank werden, um gehen zu können?", fragt sie sich in Het Laatste Nieuws. Der Staat behandele Menschen ab einem gewissen Alter, als wären sie nicht mehr klar bei Sinnen. Sie wisse aber noch perfekt, was sie sage und was sie wolle. Ihr die Möglichkeit zu geben, jetzt zu gehen, das sei kein Verbrechen, sagt Lutgart Simoens auch in der VRT. "Das ist kein Mord, hier geht es nur um Menschlichkeit, um Mitgefühl."
Es ist nicht das erste Mal, das Lutgart Simoens solche Sätze ausspricht. Nur hat diesmal die OpenVLD-Vorsitzende Gwendolyn Rutten die Gedanken aufgegriffen. "Es ist Zeit für eine Debatte über das erfüllte Leben", schreibt Rutten in einem Meinungsbeitrag, den die Zeitung De Morgen abgedruckt hat.
Rutten reagiert damit ausdrücklich auf die Aussagen von Lutgart Simoens. Sie sei ihr zwar nie begegnet, aber die 91-Jährige wirke doch wie eine sehr starke Frau. Und sie sage sehr bewusst und sehr unabhängig: "Ich möchte mein Leben gerne selbst in die Hand nehmen können. Ich bin nicht krank, aber ich will auch nicht warten, bis ich krank werde". Also, wenn sie sich Lutgart Simoens so anhöre, dann glaube sie, dass das zumindest eine Debatte wert sei, sagt Gwendolyn Rutten in der VRT.
Sie sei sich freilich dessen bewusst, dass das ein heikles Thema sei, sagt Rutten. Solche Gedanken zu formulieren und in einer Zeitung zu veröffentlichen, das sei auch nicht einfach. Es sei aber Aufgabe der Politik, sich auch der unbequemen ethischen Fragen anzunehmen.
Nur: Was heißt denn jetzt: "ein erfülltes Leben"? Wäre das tatsächlich ein Argument? Und ab welchem Alter könnte das zum Argument werden, um Sterbehilfe zu beantragen? Kurz und knapp: Wie definiert man die Grenzen?
Nun, sie habe das natürlich noch nicht ausformuliert, sagt Gwendolyn Rutten. In einer breit angelegten Debatte würde man ja auch Experten anhören und deren Meinung einfließen lassen. Sie plädiere ja auch bestimmt nicht dafür, jetzt hier was übers Knie zu brechen. Sie sei einfach nur der Ansicht, dass man sich mit der Thematik befassen solle.
Der Vorstoß sorgt naturgemäß für gemischte Reaktionen. "Man sollte sich vielmehr die Frage stellen, warum ältere Menschen irgendwann den Eindruck bekommen, dass es reicht", meinen etwa auch einige Zeitungskommentatoren. Die Frage sei wohl eher eine grundsätzlichere, schreibt De Standaard: "Wie gehen wir mit unseren Senioren um?"
"Das eine schließt das andere nicht aus", erwidert Rutten: Wir können auch beides: Die Fürsorge verbessern und zugleich den Rechtsrahmen erweitern. In jedem Fall sollte es in unserer Gesellschaft möglich sein, auch über heikle Fragen offen zu diskutieren.
Roger Pint