Die nächsten 24 Stunden sind entscheidend, darin sind sich viele Beobachter einig. Zwar gibt es bei den Sieben-Parteien-Verhandlungen über eine neue Staatsreform keine Deadline, dennoch dürfte es schwierig sein, die Gespräche ohne Ergebnis über das Wochenende hinaus am Leben zu halten.
Auf dem Programm steht bekanntlich das leidige Thema BHV, über das ja schon die vorherige Regierung gestürzt ist. Außerdem: die Zukunft der Region Brüssel-Hauptstadt. Beide Themenkreise stellen eigentlich unterm Strich das Herzstück des Streits zwischen Flamen und Frankophonen dar. Entsprechend wird sich auch hier zeigen, ob das belgische Zusammenleben überhaupt noch möglich ist.
Nehmen wir mal an, die Verhandlungen wären gescheitert. Wenn man ehrlich ist, dann muss man in diesem - bislang noch hypothetischen - Fall offen zugeben: man hat es kommen sehen. Unter Normalumständen hätte man die Gespräche nämlich eigentlich schon Anfang vergangener Woche als gescheitert erklären müssen: die Flamen sagten schwarz, die Frankophonen weiß. Und das in Kernfragen.
Das, was seit nunmehr fast zwei Wochen praktiziert wird, ist denn auch eigentlich nicht mehr als "künstliche Beatmung". Wenn man nämlich wirklich ehrlich ist: das Abkommen vom Dienstag, womit besagte Krise beigelegt wurde, ist keines. In den festgehaltenen zwölf Prinzipien steht alles und das genaue Gegenteil. Nach dem Motto: Prinzip Numero 1 - Wir bauen ein Holzhaus / Prinzip Numero 2 - Wir bauen ein Haus aus Stein und Beton.
Aber immerhin: beide Seiten hatten im Rahmen dieser zwölf Prinzipien Dinge ausgesprochen, die bis vor kurzem noch tabu waren. Die Frankophonen haben gar eine heilige Kuh geschlachtet, als sie der Neufassung des Finanzierungsgesetzes zugestimmt haben. Sinn und Zweck des ominösen Abkommens war es denn auch vor allem, eine neue Dynamik zu schaffen: es sollte - und das ist wörtlich gemeint - genug heiße Luft produziert werden, um einen Aufwind zu erzeugen und die Verhandlungen damit zu beflügeln.
Das ist bekanntermaßen nicht gelungen. Der wohl entscheidende Fehler: man hat's überstürzt. Direkt im Anschluss an die erste Einigung nach über 70 Tagen wurde schon eine Sitzung über BHV und Brüssel anberaumt. Man hätte das Ganze vielleicht erst sacken lassen müssen. Zweiter Fehler: Joëlle Milquet setzte sich persönlich an den Tisch, überließ nicht - wie die anderen - das Feld den Experten und Technikern. Und das, was Milquet dann von flämischer Seite über BHV und Brüssel zu hören bekam, soll ihr - wie man hört - gehörig die Laune verdorben haben. Damit war also die Dynamik gleich wieder dahin.
Doch es kam noch schlimmer: plötzlich kursierte ein folgenschwerer Satz, der der vermeintlich frustrierten CDH zugeschrieben wurde. Da hieß es: die Einigung vom Dienstagabend? Keine Angst! Das ist ein Aufschub erster Klasse! Wie bitte?, fiel es daraufhin den Flamen wie Schuppen von den Augen! Wir sollen hier mit losen Versprechen abgespeist werden, die ohnehin nie umgesetzt werden? Und damit war nach der Dynamik auch das Vertrauen dahin.
Dass es sich hier um mehr als nur eine Anekdote handelt, zeigte sich sehr schnell: der Sprecher von Prä-Regierungsbildner Elio Di Rupo brach sein Schweigen und meldete sich in einigen Zeitungen zu Wort, um die Sache geradezubiegen: ein Abkommen sei ein Abkommen, unterstrich er. Das Zwölf-Punkte-Papier werde schnellstmöglich umgesetzt, selbstverständlich. Das Gegenteil zu behaupten, sei ein Unding und klar zu verurteilen.
Das Unheil hatte aber schon seinen Lauf genommen. Bart De Wever hatte da nämlich bereits ein mündliches Abkommen mit Di Rupo gekippt. Beide Männer hatten sich schon auf die von den Frankophonen geforderte Neu-Finanzierung der Region Brüssel grundsätzlich verständigt. Plötzlich wollte De Wever dieses Thema in die Neufassung des Finanzierungsgesetzes einbetten. Lange Rede, kurzer Sinn: plötzlich stand alles wieder zur Disposition.
Es ist erschreckend, zu sehen, wie wenig Vertrauen auch noch nach knapp 80 Tagen am Verhandlungstisch herrscht. Wie schnell ein einziger Satz, von dem man noch nicht einmal sicher sein kann, dass er überhaupt ausgesprochen wurde, das gesamte Kartenhaus ins Wanken bringen kann. Unter diesen Umständen ausgerechnet mit BHV und Brüssel die sensibelsten Probleme lösen zu wollen, die Belgien zu bieten hat, ist eigentlich ein Himmelfahrtskommando.
Alles Gründe genug, um dem Trauerspiel längst ein Ende bereitet zu haben. Wie gesagt: unter Normalumständen wäre das auch passiert. Was die Partner davon abhält, ist allein die Angst vor dem Nichts. Denn "Nichts" heißt tatsächlich "Nichts". Laut Wahlergebnis ist nur die Achse PS-NVA legitimiert, die Verhandlungen zu führen. Es gibt da kein Kaninchen, das man noch aus dem Hut zaubern könnte, keinen dramaturgischen Kniff, keinen Joker. Zumal nach knapp 80 Tagen. Neuwahlen? Auch keine Option! Die Protagonisten blieben im Wesentlichen ohnehin dieselben.
Nein, ein Scheitern der Verhandlungen führt zwangsläufig zu der Diagnose, die Bart De Wever schon vor drei Jahren gestellt hat: das Land ist unregierbar! Flamen und Frankophone verstehen sich nicht mehr, der belgische Kompromiss ist tot. Nur, allein diese Feststellung bringt uns ja auch nicht weiter! Die einzige Konsequenz daraus wäre: man spaltet das Land. Doch hat das allenfalls den Wert einer Thekenparole. Belgien ist nicht die Tschechoslowakei. Die Scheidungsgespräche würden noch exponentiell komplizierter als die jetzigen Verhandlungen. BHV, das ist noch gar nichts gegen die Frage nach der Zukunft Brüssels nach einer Teilung des Landes. Um es einmal so auszudrücken: wenn es so einfach wäre, das Land zu spalten, dann wäre das längst geschehen.
Es gibt keinen Plan B! Nur das Chaos. Und das ist denn auch zugleich der Hoffnungsschimmer: nur, wer unter einem solchen Druck steht, kann über sich hinauswachsen. Genau dazu sind nämlich alle Beteiligten verdammt. Und das Ganze kann nur begleitet werden durch eine gehörige Portion Dramatik, Schwefelgeruch und Theaterdonner inbegriffen. Nur eins ist auch sicher: dieser Akt ist längst in der Verlängerung. Irgendwann muss nach dem Trommelwirbel auch was passieren. Di Rupo und Co haben nur noch weniger als 48 Stunden. Frage ist nur, was folgt: ein Feuerwerk oder eine Explosion?