Einmal vom Himmel in die Hölle - und zurück. Es ist eine emotionale Achterbahnfahrt ohnegleichen, die alle Beteiligten da in den letzten Tagen erlebt haben. Gestern noch flogen die Schwalben tief, zumindest sahen das die meisten Vogelflugdeuter so: Es roch nach Gewitter, nach dem vielleicht ultimativen Clash zwischen Flamen und Frankophonen, dem Gnadenstoß für die Brüsseler Verhandlungen. Stattdessen stieg - zur Überraschung vieler - weißer Rauch auf über den Amtsräumen von Staatssekretär Melchior Wathelet, die man sich als Tagungsort ausgesucht hatte.
Erstmals konnte Prä-Regierungsbildner Elio Di Rupo einen bemerkenswerten Erfolg verbuchen, eine Einigung, mit der offensichtlich alle Beteiligten leben können. Genau das macht die Sache aber eigentlich schon wieder verdächtig. Ein Abkommen, bei dem es um Geld geht, und wo am Ende alle glücklich sind, das - so lehrt es die Erfahrung - das gibt es nicht.
Schaut man sich einmal den Inhalt des Abkommens an, dann scheint sich dieser Eindruck zu bestätigen. Zwölf Prinzipien hat man festgehalten. Mehr nicht. Keine Zahlen, keine Einzelheiten. Nichts. Und diese zwölf Prinzipien - wenn man sie beim Wort nimmt - schließen sich mitunter gegenseitig aus.
Beispiel: Die Teilstaaten bekommen mehr fiskale Autonomie. Also: Sie können verstärkt selbst für ihre Einnahmen sorgen, sprich Steuern erheben. Damit sind die Flamen glücklich. Auf der anderen Seite, so wurde ebenfalls festgehalten, darf es aber nicht darauf hinauslaufen, dass eine fiskale Konkurrenz zwischen den Teilstaaten entsteht, im Klartext: Dass etwa das Leben in einer Region günstiger ist als in einer anderen. Außerdem darf keiner der Teilstaaten durch die Regelung verarmen. Beides sind Bedingungen der Frankophonen.
Man könnte den Widerspruch wie folgt zusammenfassen: Man verfährt nach der Maxime 'Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!'. Hinzu kommt: Hält man sich an die Prinzipien, dann ist es so, dass alle Ebenen des Föderalstaats im Grunde finanziell besser dastehen sollten als bisher. Niemand jedenfalls schlechter. Man kann aber dasselbe Geld nicht zweimal ausgeben. Zumal ja außerdem gespart werden muss: 25 Milliarden Euro innerhalb von fünf Jahren. Wo dieses Geld herkommen soll, darüber wurde ja bekanntlich noch gar nicht gesprochen.
Heißt das jetzt, dass das Abkommen von gestern nicht mehr als heiße Luft ist? Nein! Mit Sicherheit nicht! Um es einmal so auszudrücken: Die erste Pyramide, die die Ägypter gebaut haben, war auch nicht gleich die des Cheops, die größte also. Anders gesagt: In einer Phase, wo so mancher keinen Pfifferling mehr auf ein gütliches Ende der Verhandlungen gesetzt hätte, war eine Einigung - zumal in Geldfragen - von vitaler, von existentieller Bedeutung. Denn, so widersprüchlich die besagten zwölf Prinzipien zuweilen auch sein mögen: Zwischen den Zeilen steht hier eine Feststellung in Goldlettern geschrieben, die da lautet: Beide Seiten sind zu Kompromissen in der Lage.
Für die Frankophonen war das Finanzierungsgesetz bislang absolut tabu. Noch Stunden vor der entscheidenden Sitzung gab es zu dieser flämischen Forderung ein klar und deutliches "Njet" bei PS, cdh und Ecolo. Dass die Frankophonen jetzt prinzipiell dazu bereit sind, das Finanzierungsgesetz neuzufassen, ist ein Signal, das auf keinen Fall unterschätzt werden darf.
Gleiches gilt für die flämische Seite. In den zwölf Prinzipien steht nichts von der Einkommenssteuer. Auch die Auflage, dass keine Region am Ende schlechter dastehen darf, als vorher, dass man zudem ausdrücklich an der innerbelgischen Solidarität festhält, beides weist darauf hin, dass die N-VA nicht auf das Ganze geht, durchaus ebenfalls dazu imstande ist, Wasser in ihren Wein zu gießen.
Apropos N-VA: Man hatte einen Moment lang gemutmaßt, Bart De Wever könnte Pattstellung bei den Verhandlungen als Beweis für die Unregierbarkeit des Landes betrachten. Um dann mit Pauken und Trompeten den Stecker rauszuziehen. Dass er das nicht gemacht hat, sollte jetzt endgültig Beweis genug sein, dass auch die flämischen Nationalisten es ernst meinen: Wenn sie das Ende des Landes hätten heraufbeschwören wollen, dann wäre es DIE Gelegenheit gewesen.
Doch liefert die jüngste Entwicklung auch noch einen möglichen Beleg für eine andere Hypothese: Es gibt definitiv keinen "Plan B", es gibt keine Alternative für die derzeitigen Verhandlungen. Doch, eine: Die Spaltung des Landes. Doch müsste auch die ausgehandelt werden. Und niemand geht allen Ernstes davon aus, dass die Scheidungsgespräche einfacher würden. Ganz im Gegenteil.
Die Einigung von gestern zeigt: Die sieben Parteien sind sich tatsächlich darüber im Klaren, dass sie - man könnte sagen - zueinander verdammt sind. Doch sollte man sich darauf nicht zu hundert Prozent verlassen, ein Freibrief ist das nicht. Trotz des Damoklesschwerts über dem Verhandlungstisch muss dafür nicht jeder alles schlucken, wird niemand seine Leute verkaufen. Durch die vorgehaltene Pistole - das Schreckgespenst einer beispiellosen Staatskrise mit ungewissem Ausgang - wird allenfalls die Leidensfähigkeit erhöht, werden Schmerzgrenzen verschoben, aber eben nicht aufgehoben. Es bleibt ein Eiertanz, der erst dann endet, wenn die Tinte unter einem Abkommen auch wirklich trocken ist…
Bild: belga