Für die einen war das Glas halb voll, für die anderen halb leer. Zwei Aussagen von Gewerkschaftern fassen es treffend zusammen: Er habe gegen das Abkommen gestimmt, weil seiner Ansicht nach der Mindestlohn skandalös niedrig bleibe, sagt ein FGTB-Delegierter. Sie sei auch nicht glücklich, aber das alles sei doch besser als nichts, meint dagegen eine CSC-Gewerkschafterin.
Beide Aussagen stehen quasi symbolisch für das Abstimmungsverhalten innerhalb ihrer jeweiligen Verbände. Die christliche CSC hat das Rahmentarifabkommen mit 65 Prozent der Stimmen angenommen, bei der sozialistischen FGTB haben 56 Prozent der Delegierten den Text abgelehnt. Die FGTB schert damit aus, denn auch die liberale CGSLB und alle Arbeitgeberverbände hatten das Rahmentarifabkommen abgesegnet.
Eine Lohnerhöhung um 1,1 Prozent war vielen Roten zu wenig. Es ging aber nicht nur um die Zahl, sondern ums Prinzip. Diese 1,1 Prozent seien den Sozialpartnern durch ein Gesetz aufs Auge gedrückt worden, sagte FGTB-Chef Robert Vertenueil in der RTBF. Und das sei ein schlechtes Gesetz. Zudem stecke es die Sozialpartner in ein Korsett. So könne man doch nicht verhandeln.
Bei der christlichen CSC teilt man diese Bedenken. Wie man letztlich damit umgeht, das sei aber jedem Verband überlassen, sagte CSC-Generalsekretärin Marie-Hélène Ska. "Wir haben unsere Verantwortung übernommen", sagt Ska, "und wir erwarten, dass die anderen Vertragspartner jetzt ihren Teil der Vereinbarung einlösen."
Keine einstimmige Position
Heißt also: Die sogenannte Zehnergruppe aus Arbeitgebern und Gewerkschaften ist nicht zu einer einstimmigen Position gelangt. Und das wiederum bedeutet, dass das Rahmentarifabkommen erstmal nicht in Kraft treten kann.
Die FGTB ist ihrerseits schon bereit, notfalls Tarifabschlüsse auf Ebene der einzelnen Unternehmen anzustreben. Die anderen erwarten hingegen, dass die Regierung das Abkommen - so wie es ist - in Kraft setzt.
Da gibt es nur gleich mehrere Probleme: Erstmal hat die Koalition bekanntlich keine Mehrheit mehr. Obendrauf kommt dann nochmal, dass mindestens eine Regierungspartei Bauchschmerzen hat wegen der ebenfalls in dem Abkommen vorgesehenen Lockerung der Vorruhestandsregelung - und das ist die liberale Open VLD.
Es ist so: Rahmentarifabkommen legen in Belgien nicht nur die Gehaltsentwicklung fest. Oft geht es um den Arbeitsmarkt in seiner Gesamtheit. Der Entwurf, der jetzt auf dem Tisch liegt, umfasst etwa auch ein Kapitel, das der Vorruhestandsregelung gewidmet ist. Da stehen allerdings Dinge drin, die eigentlich den Beschlüssen der Regierung widersprechen. Grob zusammengefasst: Die Anhebung des Mindestalters, um in den Genuss einer Vorruhestandsregelung zu kommen, soll etwas verlangsamt werden. Sprich: Man soll länger früher in Frühpension gehen dürfen.
Diese Lockerung der Kriterien für den Vorruhestand schmeckt aber nicht jedem. "Damit haben wir immer noch Probleme", sagte der OpenVLD-Parlamentarier Egbert Lachaert in der VRT. "So, wie das jetzt in dem Abkommen steht, so können wir das nicht absegnen."
Heißt also im Klartext: Die Regierung, die jetzt also die Kuh vom Eis holen soll, hat keine klare Linie. Ginge es nach der Open VLD, dann müsste das Rahmentarifabkommen wieder aufgedröselt werden.
Alles oder nichts
"Kommt nicht infrage!", sagt aber CSC-Chef Marc Leemans. Das Abkommen ist ein Ganzes. Es besteht aus einer Reihe von Gleichgewichten, die nur in der Summe gewährleistet sind. Für die CSC gelte ganz klar: entweder alles oder nichts.
Die Botschaft scheint bei einigen schon angekommen zu sein. Der zuständige Wirtschafts- und Arbeitsminister, der CD&V-Vizepremier Kris Peeters, gab in der VRT schon zu verstehen, dass man am Ende wohl das Abkommen doch unverändert in Kraft setzen werde. Er wolle da zwar nichts vorwegnehmen, aber es sei doch normal, dass man diejenigen, die ihre Verantwortung übernommen und den Entwurf verabschiedet haben, auch honoriere.
Diejenigen, die dem Rahmentarifabkommen zugestimmt haben, sollen also nicht bestraft werden, so jedenfalls die Position von Kris Peeters. Nur: Wenn es hart auf hart kommt und es am Ende an der OpenVLD hängt, dann ist es nicht sicher, dass Peeters dieses Versprechen auch einhalten kann.
Kein Durchbruch bei Gesprächen
Der Ministerrat ist am Mittwochvormittag mit Vertretern der Zehnergruppe zusammengekommen, um das Rahmentarifabkommen doch noch zu retten. Nach dem Treffen verlautete zwar, die Gespräche seien konstruktiv gewesen, aber einen Durchbruch gab es nicht.
Roger Pint