Es ist die Nacht vom 19. auf den 20. November vergangenen Jahres: In Feluy nordöstlich von La Louvière protestieren Gelbwesten an der Autobahn. Die Stimmung ist aufgeheizt. Ein Fernsehteam der RTBF sucht nach einer Gelbweste, die etwas in die Kamera sagt.
Der 53-jährige Frédéric De Lel ist bereit dazu. Mit vermummtem Gesicht spricht er vor laufender Kamera folgende Worte: "Man muss uns helfen, sonst helfen wir uns selbst. Letztlich bleibt uns nur übrig, alles in Brand zu setzen und zu zerstören, damit sie uns verstehen. Aber ich glaube nicht, dass sie uns verstehen. Deshalb werden wir noch weiter gehen müssen."
Diese Worte sind es, die später die Polizei auf den Plan rufen. Denn im Verlauf der Nacht kommt es dann tatsächlich zu Ausschreitungen auf der Autobahn bei Feluy. Unter anderem geht ein Lkw in Flammen auf.
Die Polizei nimmt De Lel fest. Der Vorwurf: Aufruf zur Gewalt. Drei Jahre Gefängnis drohen De Lel damit. Die Staatsanwaltschaft fordert schließlich nur 80 Stunden gemeinnützige Arbeit. Beides wird als Strafe nicht verhängt. Denn die Richter verzichten auf die Verkündung eines Urteils. "Suspension du prononcé" wird das auf Französisch genannt, "Aussetzung der Urteilsverkündung" kann man im Deutschen dazu sagen.
De Lels Anwalt David Gelay erklärt: "Das Gericht hat entschieden, dass es zu einem Gewaltaufruf tatsächlich gekommen ist. Gleichzeitig profitiert mein Klient davon, dass die Richter kein Urteil aussprechen." Das habe De Lel seiner Persönlichkeit zu verdanken.
De Lel ist bislang nicht vorbestraft und hatte sich kooperativ bei seinem Prozess gezeigt. Zu seinen Gunsten seien auch die Erklärungen gewertet worden, mit denen er seine Worte von damals begründete: Er habe sich emotional von der Situation überwältigen lassen. Das sei eher ein Schrei der Verzweiflung gewesen, als ein ernst gemeinter Aufruf zur Gewalt.
Das alles habe die Richter dazu bewogen, auf eine Verurteilung zu verzichten. Auch das Strafregister von De Lel bleibt leer. "Das ist natürlich das Beste, was meinem Klienten abgesehen von einem Freispruch passieren konnte", kommentiert Anwalt Gelay.
Auch De Lel selbst zeigte sich nach dem Urteil erleichtert. "Jetzt kann ich endlich wieder an etwas anderes denken", zitiert ihn die RTBF auf ihrer Internetseite. Er werde weiter beim Protest der Gelbwesten mitmachen. Auf friedliche Weise, wie er betonte.
Sein Anwalt hob nochmal hervor, dass die Richter hier bewusst kein politisches Urteil gefällt hätten. "Sie haben betont, dass sie eine unabhängige Instanz sind", sagte Gelay. "Aber trotzdem wollten sie zeigen, dass in dem Kontext, in dem die Äußerungen meines Klienten getätigt wurden, seine Worte wie das Streichholz waren, das man neben einem Pulverfass anzündet."
De Lel hat jetzt 30 Tage, um gegen die Entscheidung der Richter Einspruch zu erheben. Er könnte noch auf einen Freispruch hoffen. Nach den Äußerungen von ihm und seinem Anwalt ist davon auszugehen, dass es nicht dazu kommen wird.
Kay Wagner