Auf den Tag genau zwei Monate nach den Wahlen hat Belgien zwar noch keine neue Regierung, doch befinden sich die Verhandlungen in einer entscheidenden Phase. Kernstück des Ganzen ist eine weitere tiefgreifende Staatsreform, zu der jetzt auch die Frankophonen bereit sind, dabei jedoch nach flämischer Meinung nicht weit genug gehen.
Für die Regierungsbildung hat inzwischen eine Phase begonnen, in der es um alles oder nichts geht. Nach dem überzeugenden Wahlsieg der nationalistischen N-VA in Flandern haben die Frankophonen eingesehen, dass Belgien an der Erfüllung des flämischen Wunsches nach einer deutlichen Verlagerung der politischen Kompetenzen von der föderalen Ebene in Richtung Teilstaaten nicht vorbeikommen wird. Diese Forderung abzulehnen, wäre der direkte Weg ins Chaos.
Diese frankophone Einsicht bedeutet, dass PS und cdH als voraussichtliche künftige Regierungspartner - ob Ecolo dazugehören wird, steht noch nicht fest - eine Reihe flämischer Forderungen absegnen werden, die sie bis vor kurzem noch als unmöglich ablehnten. Nach jüngsten Schätzungen werden die Teilstaaten bis zu 15 Milliarden Euro zusätzlich vom Föderalstaat erhalten, um neue politische Befugnisse nach eigenem Gutdünken zu gestalten.
Den Flamen, insbesondere der N-VA und der CD&V, geht dies jedoch noch längst nicht weit genug. Sie scheinen davon auszugehen, dass die wallonische Seite sich dem flämischen Diktat zu beugen hat, indem sie die Wünsche eines Bart De Wever und seines Gefolges sozusagen bedingungslos erfüllt. So geht es natürlich auch nicht. Der frankophonen Konzessionsbereitschaft müssen auch flämische Zugeständnisse gegenüber stehen. Es ist höchste Zeit, dass auch Wahlsieger Bart De Wever dies einsieht und sich entsprechend verhält. Andernfalls wäre wohl der Vorwurf gerechtfertigt, dass er einen Verhandlungserfolg gar nicht will, um Belgien als unregierbar zu erklären und folglich begraben zu können.
Die große Herausforderung besteht wohl darin, bei der Übertragung von Kompetenzen an die Teilstaaten für die Flamen weit genug und für die Frankophonen nicht zu weit zu gehen. Dabei darf man eines nicht vergessen: Hinter dem flämischen Drang nach Eigenständigkeit steht natürlich auch das Prinzip der finanziellen Eigenverantwortung. Im Klartext: Was sich Regionen und Gemeinschaften künftig leisten, das werden sie viel mehr als bisher mit eigenen Mitteln, d.h. mit Steuern, die sie selbst erheben, bezahlen müssen. So wollen es zumindest die Flamen. Auf frankophoner Seite plädiert man dafür, dass der Föderalstaat auch in Zukunft den Teilstaaten das Geld zur Verfügung stellt.
Nicht ganz zu Unrecht befürchten die Frankophonen, dass sie durch das Prinzip der Selbstfinanzierung in eine Situation geraten könnten, in der es ihnen wesentlich schlechter gehen würde, als jetzt, wo noch ziemlich viel flämisches Geld in die Wallonie und nach Brüssel fließt.
Um den Französischsprachigen ihre Befürchtungen zu nehmen, müsste sich Flandern mit einem Finanzausgleich einverstanden erklären, wie er z.B. in Deutschland besteht, wo reichere Bundesländer den ärmeren unter die Arme greifen. Ein solches System muss insbesondere in der sozialen Sicherheit wasserdicht garantiert sein. Noch besser allerdings wäre, wenn ihre Finanzierung weiterhin auf der Ebene des Föderalstaats erfolgen würde. Angeblich sind die Flamen dazu bereit.
Ein Dorn im Auge ist ihnen hingegen die Region Brüssel, wo sie mit nur neun Prozent Anteil an der Bevölkerung stark unterrepräsentiert sind. Deshalb würden sie die hauptstädtische Region am liebsten abschaffen, um sie künftig durch die französische und flämische Gemeinschaft gemeinsam verwalten zu lassen.
So schlagen N-VA und CD&V vor, das Kindergeld und das Gesundheitswesen den Gemeinschaften zu übertragen, damit Brüssel als Region außen vor bleibt. Dass die Frankophonen das nicht so sehen, liegt auf der Hand.
Was die DG betrifft, so stehen die Dinge für sie nicht schlecht. Sollte das künftige Belgien allein oder größtenteils nur noch aus Gemeinschaften bestehen, so sind die Deutschsprachigen mit ihrem heutigen Gemeinschaftsstatut automatisch gleichberechtigter Partner. Es gilt allerdings darauf zu achten, dass für sie dann auch die Kasse stimmt. Sollten hingegen die Regionen - einschließlich Brüssel - mit künftig stark erweiterten Kompetenzen bestehen bleiben, wird die DG und insbesondere Ministerpräsident Lambertz sicherlich alles auf eine Karte setzen, um als vierte gleichberechtigte Region neben Flanderen, der Wallonie und Brüssel anerkannt zu werden.
Doch noch sind die neuen Kompetenzen für die Teilstaaten nicht da. Dazu bedarf es vorab einer Einigung bei Di Rupo und den sieben mit ihm verhandelnden Parteien in Brüssel. Ob sie sich auf eine neue Staatsreform einigen werden, wird sich wahrscheinlich an diesem Wochenende entscheiden. Für die entsprechenden Verhandlungen hat die heiße Phase auf jeden Fall begonnen.
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