Ducarme will Schluss machen mit dem Missbrauch. Mit seinem Gesetzesentwurf hat er die Ärzte im Visier. In Zukunft sollen Kontrollärzte ihren Kollegen auf die Finger schauen. Haben diese medizinische Hilfe geleistet, die nicht in die Kategorie "dringend" fällt, dann wird ihr Honorar entweder einbehalten oder sie müssen es zurückbezahlen.
Für Dr. Erika Vlieghe vom Universitätskrankenhaus Antwerpen ist die Definition, was "dringend" ist und was nicht, nicht so eindeutig. Beispielsweise bei einer schwangeren Frau: „Egal, wie die medizinische Versorgung während der Schwangerschaft aussieht, am Ende steht die Geburt. Und die ist dann in jedem Fall dringend.“
Das Gleiche gilt für Patienten mit hohem Blutdruck. Oft kommt es erst Jahre später zu Komplikationen. „Was ist da jetzt dringend? Der Blutdruck oder der Herzinfarkt?“, fragt Erika Vlieghe.
Mit dem neuen, strengeren System entsteht Rechtsunsicherheit, sagt sie. Ärzte und Krankenhäuser fragen sich dann, welche Konsequenzen die Behandlung eines Patienten für sie haben kann. Und für die Papierlosen wird der Zugang zu medizinischer Versorgung noch schwerer gemacht, als er ohnehin schon ist.
Auch finanziell hätte das Ganze Folgen: Die Rechnung zahlten die Krankenhäuser. Das Budget für dringende medizinische Hilfe würde entlastet, die Krankenhäuser blieben aber auf ihren Kosten sitzen. Und unterm Strich würde die Rechnung teurer, erklärt Erika Vlieghe.
Ohnehin haben die Ärzte Zweifel an der Argumentation von Minister Ducarme. Der spricht von "massivem Missbrauch" und beruft sich auf einen Bericht aus dem Jahr 2016. 200 medizinische Dossiers wurden überprüft. In zwölf Fällen wurde Missbrauch festgestellt. Das macht sechs Prozent.
Da könne man schwerlich von "massivem Missbrauch" zu sprechen, so die Ärzte in ihrem offenen Brief. Die kommen eher zu dem Schluss, dass gerade einmal zehn bis 20 Prozent derjenigen, die Anrecht auf diese Hilfe hätten, diese auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Das System werde also nicht zu viel, sondern eher zu wenig genutzt.
Wenn gespart werden solle, dann sicherlich nicht bei den Schwächsten der Gesellschaft. „Die Kosten für die dringende medizinische Hilfe für die Papierlosen entsprechen gerade einmal 0,2 Prozent des gesamten Gesundheitsbudgets“. Großes Einsparpotential sehe anders aus.
Mit der Reform würde das System komplizierter, obwohl es eigentlich dringend vereinfacht werden müsste. Der administrative Aufwand ist sowieso schon für Ärzte und Krankenhäuser und die ÖSHZ zu hoch.
„Als Ärzte haben wir alle einen Eid abgelegt und starke ethische Prinzipien. Und unsere Aufgabe ist es, diesen Patienten zu helfen“, sagt Erika Vlieghe. Der juristische und finanzielle Rahmen sei aber nicht unwichtig. Wenn der nicht stimme, dann werde ihre Arbeit noch schwieriger.
Volker Krings