"Ein neues Kernkraftwerk, die Idee steht im Raum", schreibt La Libre Belgique. Kaum geisterte diese Meldung durchs Internet, da ging ein Raunen durch Politik und Gesellschaft. "Wie bitte? Jetzt plötzlich sogar neue Atomreaktoren?" Laut La Libre lasse die Regierung diese Option in jedem Fall prüfen.
Schon am Donnerstagabend beeilte sich der MR-Vorsitzende Olivier Chastel, die Meldung in ihren Kontext zu setzen. Es gehe darum, den Energiepakt zu beziffern, sagte Chastel in der RTBF. Deswegen lasse man jetzt diverse Szenarien durchrechnen, darunter auch die Möglichkeit, neue Reaktoren zu bauen. Dies mache man freilich nur, um den definitiven Beweis zu erbringen, dass das eine unrealistische Option ist - unrealistisch, weil unbezahlbar. Eine wirkliche Option sei der Bau neuer Reaktoren aber nicht, macht Chastel klar.
Das war auch noch am Freitagmorgen die Kommunikationslinie. Es sei doch völlig normal, so vorzugehen, sagte die MR-Energieministerin Marie-Christine Marghem. Wir wollen die Kosten vergleichen können und dafür müsse man alle möglichen Optionen eben einmal simulieren.
Zustimmung vom N-VA-Vizepremier Jan Jambon: "Wenn wir wissen wollen, welche Möglichkeiten auf dem Tisch liegen, dann ist es doch vollkommen logisch, dass man eben alles mal durchrechnet. Eben, damit man auf der Grundlage von konkreten Zahlen dann eine Entscheidung treffen kann." Nicht verwunderlich, dass die N-VA diese Position einnimmt: Die Nationalistenpartei hat sich ja gerade erst gegen den Atomausstieg 2025 ausgesprochen. Und offensichtlich entspricht Energieministerin Marghem mit ihrer Simulation eigentlich einer Forderung der N-VA.
Eben diese Marie-Christine Marghem scheint aber - quasi im Fahrwasser ihres Parteichefs Olivier Chastel - schon die Ergebnisse vorwegnehmen zu wollen: Es wäre nicht unlogisch, wenn diese Simulation zu dem Ergebnis kommt, dass die Option, neue Kernkraftwerke zu errichten, unrealistisch sei.
Kakophonie
"Mein Gott, wenn das so ist, warum simulieren wir das denn überhaupt", reagierten dann aber Kritiker, auch innerhalb der Koalition. Experten seien sich doch einig, dass der Bau neuer Reaktoren mit Abstand die teuerste Alternative ist, sagte etwa der CD&V-Vizepremier Kris Peeters in der VRT. Dann sei doch die Frage erlaubt, warum man dafür jetzt nochmal ein neues Gutachten braucht.
Noch deutlicher wurde der OpenVLD-Vizepremier Alexander De Croo: In diesem Land warte bestimmt niemand auf ein neues Kernkraftwerk. Darüber hinaus habe das Parlament 2015 mit breiter Mehrheit den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Darüber hinaus, warnt De Croo: Überall, wo man den Bau neuer Meiler beschlossen hat, haben sich die Kosten am Ende verdoppelt bzw. verdreifacht. Schöne Kakophonie also, die die Koalition da gleich wieder zum Besten gibt...
Grundbedingungen
Premier Charles Michel gab dann gegen Mittag den Salomon: "Nein, wir werden den Bau neuer Kernkraftwerke nicht nochmal simulieren lassen", sagte Michel. Was simuliert wird, das müsse mit drei Grundbedingungen zu vereinbaren sein: Mit dem bisherigen Entwurf des Energiepaktes, mit dem Regierungsabkommen und mit dem Gesetz von 2015. "Das Gesetz von 2015", damit ist der vom Parlament beschlossene Atomausstieg gemeint. Also: Michel gibt quasi die Order aus, dass der Beschluss weiterhin steht.
Charles Michel hat also entschieden - nur: Hat er damit nicht die eigene Energieministerin zurückgepfiffen? "Wie kommen Sie denn darauf?", antwortete Marie-Christine Marghem aber in der VRT. Es sei immer ihre Absicht gewesen, den Atomausstieg anzustreben und die Reaktoren durch Gaskraftwerke zu ersetzen.
Zurückrudern oder nicht - diese Gaskraftwerke, die müssen allerdings immer noch erst gebaut werden. Und viele Experten warnen: Die Wahrscheinlichkeit, dass es 2025 ausreichend Alternativen gibt, die ist - sagen wir mal - "im atomaren Bereich".
Roger Pint