"Der Bruch ist nötig, und er muss sofort erfolgen", mit diesen Worten löst der CDH-Vorsitzende Benoît Lutgen am frühen Nachmittag des 19. Juni ein Erdbeben aus. Bruch? Genau! Die CDH hat den Stecker gezogen: Auf Ebene der Wallonischen Region, der Französischen Gemeinschaft und der Region Brüssel kündigen die Zentrumshumanisten alle Koalitionen mit der PS auf.
Lutgen zieht damit nach eigenen Worten die Konsequenz aus den Skandalen und Affären der letzten Wochen und Monate. Die hätten ihn richtiggehend angewidert. In der Tat: Den Publifin-Skandal hatte man ja quasi noch aus dem letzten ins neue Jahr mitgenommen.
2017 beginnt auch in anderen Bereichen quasi so hässlich, wie das alte Jahr aufgehört hat. In der Silvesternacht kommen bei einem Anschlag in Istanbul 39 Menschen ums Leben. Und auch Deutschland steht in den ersten Januartagen noch unter Schock, nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin. Am 5. Januar wird bekannt, dass die Flucht des mutmaßlichen Täters über Brüssel führte.
Dieser Anis Amri sei sogar von einer Überwachungskamera gefilmt worden. Man hätte ihn aber unmöglich identifizieren können, betont Peter De Waele, Sprecher der Föderalen Polizei. Das gehe alles zu schnell, und außerdem sei Amri vermummt gewesen.
Publifin
Politisch dreht sich aber in diesen Januartagen erst einmal alles um Publifin. Der Skandal um die völlig überzogenen Sitzungsgelder bei der Lütticher Interkommunalen war kurz vor Weihnachten ans Licht gekommen, nimmt dann aber gleich nach den Feiertagen richtig Fahrt auf.
Die Frage aller Fragen: Wie konnte es soweit kommen? Für die Opposition ist klar: Die wallonische Regierung muss davon gewusst haben. Schließlich sei sogar der Kabinettschef des Aufsichtsministers Teil des Systems gewesen, sagt Stephane Hazée (Ecolo). Besagter Aufsichtsminister, das ist der PS-Politiker Paul Furlan. Ihm untersteht die Kontrolle der lokalen Behörden und auch der Interkommunalen.
Die Sozialisten stehen im Zentrum des Skandals. Zwar sind auch MR und CDH in den Publifin-Skandal verstrickt, die PS-Leute gelten aber als die Strippenzieher. Die Sozialisten versuchen aber, alle Verantwortung auf einen Mann abzuwälzen, nämlich Stéphane Moreau. Moreau, das ist nicht nur der Geschäftsführer der mächtigen Publifin-Tochter Nethys, er ist auch der Architekt des ganzen Konstrukts.
"Herr Moreau muss sich entscheiden", sagt PS-Chef Elio Di Rupo nach einer Krisensitzung des PS-Vorstands. "Entweder er bleibt Bürgermeister von Ans oder Nethys-Chef. Beides zusammen jedenfalls geht nicht mehr."
Die PS ist im Krisenmodus. In Windeseile geben sich die Sozialisten neue Ethikregeln. Furlan verspricht, aufzuräumen. Doch der Druck wird mit jedem Tag größer. Am 26. Januar tritt der PS-Hoffnungsträger zurück, betont dabei aber, dass er sich nichts vorzuwerfen habe.
Kasachgate
Zehn Jahre nach den Affären von Charleroi hat die PS also wieder ihren Skandal. Der Erzfeind MR hat auch seinen Skandal, und der hört auf den kryptischen Namen Kasachgate. Grob zusammengefasst: Der MR-Spitzenpolitiker Armand De Decker soll das Parlament beeinflusst haben, und dabei seine Interessen als Rechtsanwalt vor Augen gehabt haben.
Ziel war es demnach, ein Gesetz auf die Schienen zu bringen, das seinem Mandanten faktisch Straffreiheit garantiert. Besagter Mandant, das ist Patokh Chodiew, belgischer Milliardär usbekischer Herkunft mit exzellenten Beziehungen zu Kasachstan. Der hätte sich eigentlich vor Gericht verantworten müssen, unter anderem wegen Urkundenfälschung und Geldwäsche. Nachdem die Kammer 2011 ein Gesetz verabschiedet hatte, das gerichtliche Deals ermöglicht, wurde die Anklage nach Zahlung einer Geldsumme fallengelassen.
Im Januar setzt die Kammer einen Untersuchungsausschuss ein. Viel später wird Armand de Decker vor dem Gremium aussagen und dabei alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurückweisen. De Decker ist inzwischen von allen seinen Ämtern zurückgetreten. Offen ist, ob bzw. inwieweit andere Politiker verstrickt sind. De Decker hätte das Parlament wohl nicht alleine manipulieren können.
Die ersten Monate des Jahres werden regelrecht von den Skandalen getaktet. Und plötzlich hat auch Flandern sein "Publifin": Bei der Genter Interkommunalen Publipart gab es ähnlich hohe Bezüge für ähnlich wenig Arbeit.
Wirtschaftlicher Aufschwung
Auf föderaler Ebene ist es dagegen vergleichsweise still. Wenn überhaupt, dann gibt es zur Abwechslung mal gute Neuigkeiten. Positive Wirtschaftsgutachten scheinen die Politik der Regierung zu bestätigen und sorgen entsprechend für Hochstimmung im Brüsseler Regierungsviertel. Die jüngsten Berichte von Planbüro und Nationalbank scheinen darauf hinzudeuten, dass sich die Konjunktur weiter verbessern wird.
Und die Basis bestätigt den Trend: "Sechs von zehn Unternehmen rechnen damit, dass sie ihren Umsatz in diesem Jahr steigern können", sagte Pieter Timmermans, Geschäftsführer des Unternehmerverbandes FEB. Doch muss sich die föderale Koalition doch eine Niederlage eingestehen: Ihr Ziel, bis 2019 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, wird sie verfehlen. Die "Schwarze Null" wird verschoben.
Schweigeminute in Zaventem
22. März, der erste Jahrestag der Brüsseler Anschläge. Ein ganzes Land hält noch einmal inne, gedenkt der Opfer der Bombenanschläge im Flughafen und in der Metrostation Maelbeek. 32 Tote, 340 Verletzte. König Philippe verspricht den Opfern und Angehörigen Respekt und ein offenes Ohr.
Im Grunde hat sich das ganze Land immer noch nicht wirklich von dem Schock erholt. Illustration sind zwei Zwischenfälle, die sich ebenfalls im März ereignet haben. Am 2. März wird in Brüssel Großalarm ausgelöst. Die Polizei hatte einen Wagen gestoppt. Wie sich herausstellt, war der Fahrer als "Gefährder" eingestuft.
Als man dann auch noch Gasflaschen in dem Fahrzeug findet, schrillen alle Alarmglocken. Das Viertel wird weiträumig abgesperrt. Am nächsten Tag wird der Mann aber schon wieder freigelassen. "Wir haben ihm keinerlei terroristische Absichten nachweisen können", sagte Ine Van Wymersch, Sprecherin der Brüsseler Staatsanwaltschaft.
Zwischen polizeilichen Sicherheitserwägungen und kollektiver Psychose ist es manchmal nur ein schmaler Grat. Das zeigt sich auch drei Wochen später, als Meldungen von einem "vereitelten Anschlag" in Antwerpen die Runde machen. Am Tag nach der Brüsseler Gedenkfeier nimmt die Polizei einen Mann in der Hafenmetropole fest, der möglicherweise auf der Einkaufsstraße Meir mit einem Wagen in eine Menschenmenge rasen wollte.
Auch diesem Verdächtigen kann derweil nichts nachgewiesen werden, was unter anderem dem Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever den Vorwurf einbringt, mit seiner vorschnellen Kommunikation Panikmache betrieben zu haben. Der Monat März konnte sich manchmal so anfühlen, als hätten Terroristen ein zweites Mal in Belgien zugeschlagen.
Richtungsweisende Wahlen
Das Frühjahr steht derweil auch im Zeichen von Wahlen. Für Unruhe sorgt zunächst ein Referendum in der Türkei, dabei geht’s um die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Erweiterung seiner Macht. An der Wahl dürfen sich auch Auslandstürken beteiligen, deren Stimmen gelten sogar als Zünglein an der Waage. Entsprechend polternd und verstörend die Signale, die Ankara in Richtung Westen sendet. Spätestens als einige EU-Staaten Wahlkampfmeetings türkischer Politiker verbieten, brechen am Bosporus alle Dämme. Mehrmals bemüht Erdogan sogar Nazi-Vergleiche.
Dabei wirken die Niederlande einen Moment lang wie ein Brennglas. Dort stehen nämlich ebenfalls Wahlen an, und dem Rechtspopulisten Geert Wilders werden gute Chancen auf ein stattliches Wahlergebnis eingeräumt. Wahlkampfveranstaltungen türkischer Politiker sorgen da für zusätzliche Unruhe. Und auch auf Ebene der EU blickt man besorgt auf die Niederlande. Auch ein Geert Wilders würde die Staatengemeinschaft lieber heute als morgen verlassen.
Am Ende blieb die PVV von Wilders doch weit hinter den Erwartungen zurück. Einige Wochen später gibt es übrigens auch aus Frankreich Entwarnung: Emmanuel Macron, ein Jahr zuvor noch eher ein Nobody, setzt sich bei der Präsidentschaftswahl gegen die rechtsextreme Marine Le Pen durch.
Brexit
Dennoch: Europa steckt weiter in einer tiefen Sinnkrise. 29. März, 13:30 Uhr. Die BBC unterbricht ihr Programm: "Geschichte wurde geschrieben", sagt der Journalist. "Artikel 50 wurde aktiviert, der Brief von Theresa May wurde offiziell dem EU-Ratspräsidenten Tusk übergeben."
Der bestätigt wenig später, dass der Brief eingegangen ist und hält das Schreiben in die Luft. Die Austrittserklärung, sechs Seiten lang. "Machen wir uns nichts vor", sagt Donald Tusk, "heute ist kein schöner Tag." Weder in Brüssel, noch in London.
Damit beginnen also die Austrittsverhandlungen, die sich das ganze Jahr über hinziehen sollten. Die EU folgt dabei einer ziemlich harten Verhandlungslinie, der sich Großbritannien am Ende wohl oder übel beugt. Erst vor einigen Tagen gab es eine Einigung, zunächst allein über die Ausstiegsmodalitäten. Ab jetzt soll über die zukünftige Beziehung verhandelt werden.
Selbst in Großbritannien scheint inzwischen die Einsicht zu reifen, dass der Brexit vielleicht nicht die beste Idee war. Das ist auch in Belgien der allgemeine Tenor. Sogar König Philippe, der sich eigentlich nicht politisch äußern darf, gab schon Anfang des Jahres indirekt zu verstehen, dass er das für den falschen Weg hält.
Dabei hat König Philippe aber noch eine zweite Anspielung versteckt. "Mauern errichten", damit dürfte wohl Donald Trump gemeint sein. Der neue US-Präsident ist zweifelsohne eine der prägenden Figuren des Jahres 2017 - freilich auf seine Art: polternd, provozierend, oft die Wahrheit verdrehend.
Schnell zeigt der neue US-Präsident, dass er im Ernstfall nicht lange fackelt: Am 7. April lässt er 59 Raketen des Typs Tomahawk auf Syrien abschießen. Im Alleingang. Schon bei seiner Amtseinführung im Januar hatte Trump klargemacht, dass zumindest grundsätzlich nichts mehr so sein muss wie bisher. Und das gilt auch für die Beziehungen zu den europäischen Verbündeten. Entsprechend wird sein Brüssel-Besuch Ende Mai mit Spannung erwartet.
Und es kam, wie es nicht kommen sollte. Bei der Eröffnung des neuen Nato-Hauptquartiers in Evere übt Trump Kritik an den Partnern. 23 der 28 Mitglieder der Verteidigungsallianz bezahlten ihre Beiträge nicht, das sei unfair den amerikanischen Steuerzahlern gegenüber.
Wichtig ist hier, was Trump NICHT sagt. Der US-Präsident bekennt sich nicht ausdrücklich zu Artikel fünf der Nato-Charta - zur Beistandsklausel, die besagt, dass im Falle eines Angriffs auf ein Land alle anderen ihm zu Hilfe kommen.
An diesem Christi Himmelfahrtstag 2017 dürfte wohl auch dem letzten aufgegangen sein, dass die Europäer sich nicht mehr allzu sehr auf ihren transatlantischen Partner verlassen sollten.
Im Laufe des Jahres wird denn auch unter Hochdruck an der Stärkung der gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik gearbeitet. Europa will sein Schicksal verstärkt selbst in die Hand nehmen. Dabei wird man immer wieder schmerzlich daran erinnert, dass der Feind auch manchmal von innen kommt. London, Stockholm, Manchester, der Terror wird - so zynisch es klingt - irgendwie fast schon zu einer schrecklichen Routine.
Anschläge vereitelt
Am Abend des 20. Juni hält auch Belgien für einige Stunden den Atem an. "Gestern Abend wurde im Brüsseler Zentral-Bahnhof ein Anschlag vereitelt", bilanziert Premier Charles Michel am 21. die Lage. 20:44 Uhr: Ein Mann zündet in Mitten einer Menschenmenge einen Sprengsatz, der sich in seiner Tasche befand. "Die Explosion ist aber zum Glück so harmlos, dass niemand verletzt wird", sagt Eric Van der Sijpt, Sprecher der Föderalen Staatsanwaltschaft.
Der Täter irrt danach durch den Bahnhof, trifft irgendwann auf eine Patrouille von Soldaten, ruft "Allahu akbar" und geht auf die Soldaten los. Einer von ihnen eröffnet das Feuer, der Täter erliegt noch vor Ort seinen Verletzungen.
Einen ähnlichen Vorfall gibt es am 26. August. In der Brüsseler Fußgängerzone an der Börse geht ein Mann mit einem Messer auf patrouillierende Soldaten los. Auch hier schreit der Angreifer "Allahu akbar". Die Soldaten eröffnen sofort das Feuer und töten den Mann. In beiden Fällen wird die Terrorwarnstufe nicht angehoben, das ganze Jahr über gilt aber weiter Niveau drei auf einer Skala bis vier.
Samusocial
Auf politischer Ebene steht die Chaosstufe derweil in dieser Zeit auf Niveau zehn von zehn. Am Anfang steht erstmal wieder ein neuer Skandal. Auf Publifin folgt Samusocial - der Name einer VoE, die sich um die Obdachlosen in der Hauptstadt kümmert. Die Vereinigung ist zwar "privat", sie ist auch zum Teil spendenfinanziert, die Nähe zu den Brüsseler Stadtverantwortlichen ist aber unübersehbar.
Und wie bei Publifin wurden auch hier überhöhte Sitzungsgelder bezahlt. Mehr noch: Am Ende sind es keine Sitzungsgelder mehr, das Führungsgremium kommt vielmehr in den Genuss einer Pauschalvergütung. Das bestätigt auch Pascale Peraïta, die ehemalige Chefin des Samusocial, bei einer Anhörung im Stadtrat.
Ungläubiges Kopfschütteln bei der Opposition. Zumal das offensichtlich nur die Spitze des Eisbergs ist. Erste Untersuchungsberichte weisen darauf hin, dass beim Samusocial das Wort Transparenz nicht sonderlich großgeschrieben wurde.
"Pauschalvergütung" ist nur ein Beispiel. Das bedeutet also, dass die Mitglieder des Führungsgremiums Geld bekommen, ob man nun tagt oder nicht. Dabei geht es um immerhin 1.400 Euro pro Monat. In den Genuss besagter Pauschalvergütung kommt neben Pascale Peraïta auch der amtierende Brüsseler PS-Bürgermeister Yvan Mayeur. Und um den wird es schnell ziemlich einsam.
"Klar habe ich meine Probleme mit dieser Geschichte", sagt ungewöhnlich offen der Brüsseler Ministerpräsident Rudi Vervoort. Natürlich handele es sich beim Samusocial um eine private Struktur, demzufolge gehe es hier auch nicht um politische Mandate. Dennoch stellten sich hier doch moralische Fragen. Und Mayeur solle sich doch fragen, ob er das Amt des Brüsseler Bürgermeisters noch glaubwürdig ausfüllen könne.
Dann geht alles sehr schnell. Ein Koalitionspartner nach dem anderen kündigt Mayeur die Gefolgschaft. Am Abend des 8. Juni, einen Tag, nachdem der Kessel übergekocht war, kündigt Mayeur seinen Rücktritt an. Wohl auch unter dem Eindruck dieser Krise hat später auch Laurette Onkelinx den Tränen nahe ihren Rückzug aus der Politik angekündigt.
Wie bei der Publifin-Affäre haben sich auch beim Samusocial-Skandal Abgründe aufgetan. In beiden Fällen fällt zwischenzeitlich der Begriff "Mafia-Methoden". Im Zentrum steht beide Male die PS. Und die Sozialisten bekommen das zu spüren. Die ungewöhnlich seltenen Umfragen, über die man in dieser Zeit verfügt, prognostizieren der PS ein Waterloo. Und über die Fragen, ob Elio Di Rupo Parteichef bleiben soll, wird das ganze Jahr lang diskutiert.
Premiere
Der Rücktritt und spätere Parteiausschluss von Yvan Mayeur, das war aber immer noch erst der Anfang. Am 19. Juni zieht CDH-Präsident Benoît Lutgen den Stecker. Mit diesem spektakulären Schritt will er eben die Konsequenzen ziehen aus den nicht enden wollenden Skandalserie. Er rufe MR, Ecolo und Défi auf, gemeinsam neue, "positive" Mehrheiten auf die Beine zu stellen, in der Wallonie, in Brüssel und auch in der Französischen Gemeinschaft.
An diesem warmen Montag im Juni wird Geschichte geschrieben. Das gab es noch nie. Die Entscheidung schlägt wie eine Bombe ein. Die PS gerät sichtbar ins Taumeln, spricht in einer ersten Reaktion von "Verrat". Dabei muss man wissen: Neuwahlen sind nicht möglich, ein Machtwechsel auf Gliedstaatenebene kann nur über ein konstruktives Misstrauensvotum erfolgen, wenn also eine neue Koalition gebildet wurde.
Dafür braucht die CDH allerdings Partner. Und zwar mitunter viele Partner. Um etwa in Brüssel eine neue Mehrheit ohne die PS zustande zu bekommen, braucht man auf frankophoner Seite idealerweise ein Bündnis aus vier Parteien.
Früh zeigt sich: Das wird nicht einfach. Noch an diesem 19. Juni wirft Défi der CDH vor, aus rein parteistrategischem Kalkül gehandelt zu haben. Und so etwas wolle der Bürger nicht mehr sehen, sagt der Brüsseler Défi-Wirtschaftsminister Didier Gosuin.
Damit war schon vieles gesagt. Tags drauf, am Dienstag liegen dann, wie sich zeigen sollte, schon alle Karten auf dem Tisch. Die Liberalen zeigen sich noch mehr oder weniger gesprächsbereit. "Wir sind eine Partei, die in schwierigen Momenten ihre Verantwortung übernimmt", sagt MR-Chef Olivier Chastel.
Ecolo macht aber schon nicht weniger als eine ethische Revolution zur Grundbedingung: eine demokratische Erneuerung, damit verbunden die Abschaffung der Ämterhäufung, erklärt Co-Präsidentin Zakia Khattabi.
Auch Défi verlangt einen klaren Bruch mit der Vergangenheit, der Vorsitzende Olivier Maingain macht das aber auch an Personen fest: "Wie kann man sich auch nur einen Augenblick lang vorstellen, dass ein Armand De Decker nach dem Kasachgate-Skandal noch für die MR im Brüsseler Parlament sitzt? Gegen die CDH-Politikerin Joëlle Milquet laufen gerichtliche Ermittlungen. Die Leute müssen jetzt zurücktreten, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen."
Streitpunkt Ämterhäufung
Diese Positionen werden sich in den nächsten sechs Wochen eigentlich nicht mehr verändern. Die Grünen setzen sich immerhin noch mit der CDH und der MR an einen Tisch. Fast vier Wochen lang wird über die von Ecolo geforderte ethische Revolution verhandelt. In vielen Bereichen konnte man sich zwar annähern, mindestens in einem wesentlichen Punkt gebe es aber nach wie vor keine Einigung, sagte Khattabi am Abend des 13. Juli: MR und CDH wollten ein absolutes Verbot von Ämterhäufung nicht akzeptieren. Für Ecolo sei und bleibe das aber eine Grundbedingung.
Was nun? Die Grünen sind raus, Défi war nie drin. MR und CDH beschließen, schonmal da zu koalieren, wo sie eine Mehrheit haben - das gilt allerdings nur für die Wallonischen Region. Und in Namur geht es dann sehr schnell. Zehn Tage später steht ein Regierungsabkommen.
In dieser verrückten Woche mitten in einer Zeit, die man eigentlich "das Sommerloch" nennt, passiert auch in Brüssel eine ganze Menge. Premier Charles Michel hat seine Equipe zu einem Sonderministerrat geladen. Das Resultat ist beeindruckend. Nicht nur, dass sich die Regierung schon auf den Haushalt 2018 geeinigt hat, die Koalitionspartner verständigen sich zudem auf ein ehrgeiziges Reformpaket.
Sommerabkommen
An diesem 26. Juli wird das "Sommerabkommen" geboren, und es gibt nur ein Ziel: Jobs, versprechen Premier Charles Michel und sein N-VA-Vize Jan Jambo Das Paket enthält 40 Maßnahmen, darunter die von der N-VA gewollte Reform der Körperschaftssteuer. Grob zusammengefasst werden die Steuern für Unternehmen gesenkt, kleine Betriebe zahlen statt 34 nur noch 20 Prozent, erklärt N-VA-Finanzminister Johan Van Overtveldt.
Als Gegenleistung bekommt die CD&V ihre Vermögenssteuer, über die man so lange gestritten hatte. Und das in Form einer Abgabe auf Wertpapierdepots mit einem Gegenwert von mindestens 500.000 Euro. Danach geht’s zum Tomorrowland-Festival nach Boom, wo Charles Michel und seine Minister ihr "Sommerabkommen" bei Technobeats feiern. Die Kammer hat das Paket allerdings immer noch nicht verabschiedet.
Zurück nach Namur. 28. Juli. Nachdem das wallonische Parlament das konstruktive Misstrauensvotum angenommen hat, leistet der MR-Politiker Willy Borsus seinen Amtseid als neuer wallonischer Ministerpräsident, auch auf Deutsch. Willy Borsus war bislang Föderalminister, unter anderem für Landwirtschaft und den Mittelstand. Ihn ersetzt sein Parteifreund Denis Ducarme.
Fipronil
Dessen Feuertaufe kommt aber sozusagen postwendend. In diesen Tagen geht ein Gespenst mit dem Namen Fipronil um. Das verbotene Insektizid wurde in Eiern nachgewiesen. Wirklich bekannt wird das erst Ende Juli. Schnell zeigt sich aber, dass die föderale Agentur für Nahrungsmittelsicherheit Afsca schon seit Wochen von dem Problem wusste. Und auch die Krisenkommunikation der Afsca lässt zu wünschen übrig. Erst gibt es Entwarnung, dann werden doch auch in Belgien Eier aus den Regalen genommen.
Resultat jedenfalls: Belgien steht plötzlich EU-weit am Pranger. Bei einer mit Spannung erwarteten Anhörung im Parlament lässt der neue Landwirtschaftsminister Denis Ducarme dann aber eine Bombe platzen: Die niederländischen Behörden wüssten schon lange von einer möglichen Fipronil-Kontamination. Es gebe einen Bericht, in dem die niederländische Lebensmittelaufsicht den Minister vor einer Fipronil-Verseuchung warnt - von November 2016.
Nach einigen chaotischen Tagen normalisiert sich die Lage dann aber Mitte August. Auf EU-Ebene wird in Folge der Kontamination ein verstärkter Informationsaustausch vereinbart.
Von Olivier Maingain ...
Und das Karussell dreht sich weiter. Die politische Sommerpause ist beendet. Zehn Wochen sind vergangen, seit CDH-Chef Benoît Lutgen "den Stecker gezogen hat". Aber in zwei von drei Parlamenten steht man trotz mehrerer Runden immer noch da, wo man vor zwei Monaten auch schon war. Nirgendwo nämlich.
Ende August gilt die Order "Butter bei die Fische", und die richtet sich an den Défi-Vorsitzenden Olivier Maingain. Von seiner Partei hängt ab, ob eine neue Mehrheit insbesondere in der Region Brüssel nun möglich ist oder nicht. MR und CDH beknien ihn fast, doch noch Koalitionsgespräche aufzunehmen. Maingains Antwort ist kryptisch und eindeutig zugleich: Grund für die Blockade seien doch diejenigen, die andere von vornherein ausschließen. Er schließe niemanden aus, denn er schlage vor, dass alle Parteien zusammenarbeiten.
Maingain will also mit der PS weiterarbeiten, zumindest will er das auch nicht grundsätzlich ausschließen. Resultat jedenfalls: In Brüssel und in der Französischen Gemeinschaft bleibt am Ende alles beim Alten. Der kantige Olivier Maingain gehört wohl zu DEN Politikern, die 2017 geprägt haben.
... bis zu Theo Francken
Das gilt auch für Theo Francken. Der N-VA-Asylstaatssekretär sorgt - fast schon wie Donald Trump - in sehr regelmäßigen Abständen für Polemik. Zunächst sind es die Polizeirazzien im Brüsseler Maximilian-Park, wo das ganze Jahr über Migranten ausharrten, in der Hoffnung, es irgendwann doch nach Großbritannien zu schaffen.
Im September sorgt der N-VA-Politiker dann aber für einen Sturm der Entrüstung. Es wird bekannt, dass Francken Vertreter der sudanesischen Behörden empfangen hat, die dabei helfen sollen, sudanesische Flüchtlinge zu identifizieren, um die dann in ihre Heimat abzuschieben.
Francken selbst sieht kein Problem: Wir sprechen hier über eine rein technische, administrative Zusammenarbeit, um die Rückkehr der Menschen in den Sudan zu beschleunigen, die sich hier illegal aufhalten und kein Asyl beantragen wollen.
Ausgerechnet der Sudan!, empören sich aber Sozialisten, Grüne und Menschenrechtler. Hier handele es sich doch um eine der schlimmsten und brutalsten Diktaturen der Welt. Gerade vor einigen Tagen erst scheinen sich ja die Warnungen bewahrheitet zu haben. Von Belgien abgeschobene Sudanesen sind nach eigenen Angaben in ihrem Heimatland gefoltert worden.
Theo Francken jedenfalls polarisiert. Die einen sehen in dem N-VA-Politiker fast schon den Leibhaftigen, die Jugendorganisation von Ecolo etwa stellt Francken in Nazi-Uniform dar. Auf der anderen Seite ist er in allen Landesteilen in den Top Ten der populärsten Politiker. Sogar in der Wallonie belegt er den fünften Platz.
Heißer Herbst
Der Herbst ist erstmal geprägt von Enthüllungen. Die Paradise Papers zeigen erneut, wie und wo die Reichen ihr Geld vor dem Fiskus verstecken. Pikant ist dabei, dass sogar der belgische Staat an einer Firma in einem Steuerparadies beteiligt ist. Enthüllungen auch in der Affäre um die Killer von Brabant. Einer der Täter soll - über 30 Jahre nach der letzten Attacke der Bande - auf dem Sterbebett ein Geständnis abgelegt haben.
Der Herbst ist aber auch vergleichsweise heiß. Zunächst an der Sozialfront. Den Auftakt gibt es am 10. Oktober, just an dem Tag, an dem Premier Michel in der Kammer den Haushalt und das dazugehörige Sommerabkommen vorstellt. Während die CGSP quasi vor der Türe demonstriert, wiederholt Premier Charles Michel in der Kammer sein inzwischen altbekanntes Credo: "Jobs, Jobs, Jobs – das ist heute eine Realität".
Die Gewerkschaften sehen das anders und haben gleich eine ganze Liste von Kritikpunkten. Ganz oben stehen die Rentenreform und die geplante Einführung eines Minimaldienstes im Streikfall. Es ist vor allem die sozialistische FGTB, bzw. im Öffentlichen Dienst die CGSP, die den Protest anführt - notfalls auch im Alleingang. Das Ganze gipfelt in einer Großkundgebung vor gut zehn Tagen in Brüssel.
Diese Regierung lasse keine Gelegenheit aus, um den Sozialstaat weiter abzubauen, wetterte FGTB-Generalsekretär Robert Vertenueil. Eine Gewerkschaft, die was auf sich hält, die könne so etwas doch nicht hinnehmen und müsse sich wehren.
Bei der SNCB war der Herbst aber nicht nur "heiß" wegen der schwelenden Sozialkonflikte. Am 27. November kommt es in der Nähe von La Louvière zu einem folgenschweren Zugunglück, bei dem zwei Menschen getötet und sieben weitere verletzt werden. Und dabei hat man noch Glück im Unglück - die Bilanz hätte noch deutlich schlimmer ausfallen können.
Puigdemont in Brüssel
Heiß war der Herbst aber auch auf dem diplomatischen Parkett. Am 1. Oktober führt die Regionalregierung in Katalonien eine Volksbefragung durch. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die mögliche Unabhängigkeit der Region. Die Zentralregierung in Madrid erkennt das Referendum nicht an, am Wahlsonntag kommt es zu Gewaltszenen, als Polizisten versuchen, Menschen daran zu hindern, ihre Stimme abzugeben.
Belgien ist mit das einzige Land, das die Gewalt verurteilt. Außenminister Didier Reynders ruft darüber hinaus zum Dialog auf. Fast auf den Tag genau einen Monat später - am 31. Oktober - ist der inzwischen abgesetzte katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont plötzlich in Brüssel.
Die spanische Justiz hat Haftbefehl gegen ihn und einige seiner früheren Ministerkollegen erlassen und lässt schnell auch europaweit nach ihnen fahnden. Ein belgisches Gericht wird also über den Auslieferungsantrag zu befinden haben. Puigdemont nimmt einen belgischen Anwalt: Paul Bekaert. Der versichert gleich, dass sein Mandant mit der belgischen Justiz zusammenarbeiten und sich der Prozedur also nicht entziehen werde.
Belgien hat ein Problem. Innenpolitisch, weil sich insbesondere die N-VA mit der katalanischen Sache ziemlich identifiziert. Und außenpolitisch, weil Spanien genau aus diesem Grund Belgien und seine Justiz sehr kritisch beäugt.
Verstimmungen zwischen beiden Ländern hat es auch schon im August gegeben. Am 17. August überfährt ein Mann in Barcelona mit seinem Lieferwagen wahllos Passanten. Auf den Ramblas, dem Prachtboulevard der Stadt, tötet er 13 Menschen, 119 weitere werden verletzt. Der Drahtzieher des Anschlags soll sich zwischenzeitlich in Belgien aufgehalten haben, beide Länder werfen sich danach gegenseitig vor, den Informationsaustausch vernachlässigt zu haben. Apropos Terrorismus: Am 2. November kommen in New York vier Belgier bei einem Anschlag ums Leben.
Wie dem auch sei: Anfang Dezember hebt die spanische Justiz überraschend den europäischen Haftbefehl gegen Puigdemont wieder auf. Belgien ist das Problem los, zwei Tage später demonstrieren dennoch 45.000 Katalanen in Brüssel und fordern insbesondere eine Intervention der EU.
Heiß war der Herbst aber auch für die Brüsseler Polizei. Kundgebungen von Gewerkschaften, von Katalanen ... und dann bekam man es auch noch mit gewaltsamen Ausschreitungen zu tun. Der Anlass war eigentlich ein freudiger, nämlich die Qualifikation Marokkos für die Fußball-WM. Die Siegesfeier am 12. November läuft aber total aus dem Ruder. Bürgerkriegsszenen mitten im Zentrum der Hauptstadt: geplünderte Geschäfte, abgefackelte Autos. Die Polizei wirkt bei alledem ziemlich machtlos. Drei Tage später flackern wieder Ausschreitungen auf.
Danach beginnt natürlich die Suche nach den Verantwortlichen. Und der Streit bekommt zunehmend auch eine gemeinschaftspolitische Note: In Flandern hört man mehr denn je die Forderung nach einer Fusion der sechs Brüsseler Polizeizonen. Ein erster Untersuchungsbericht, den Innenminister Jan Jambon verliest, scheint das zu untermauern. Es habe keinerlei zentrale Kommandostruktur gegeben, die Einsatzkräfte hätten keinen globalen Überblick gehabt. Die Frankophonen werfen Jambon daraufhin eine "einseitige Lesart" vor.
Euroarena
Flamen und Französischsprachige streiten also wieder über die Hauptstadt. In diesen Zusammenhang passt das Debakel um die Euroarena. "Brüssel wird nicht einer der Austragungsorte bei der EM 2020", sagt UEFA-Präsident Aleksander Čeferin. Das Problem: Brüssel hat kein Stadion. Der geplante Neubau auf dem Brüsseler Heyselgelände scheitert wohl vor allem am belgo-belgischen institutionellen Dschungel, da das Gelände zum Teil auf flämischen Boden liegt.
Dieses Debakel wirkt symptomatisch. Irgendwie ist der Wurm drin. Die Föderalregierung scheint mehr denn je unrund zu drehen, nichts mehr zustande zu kriegen. Beispiele sind etwa der Energiepakt, der auf der Kippe steht, oder das Sommerabkommen, das nun in Teilen ins neue Jahr verschoben werden muss. Und die Polemik um Asylstaatssekretär Theo Francken dauerte auch über Weihnachten noch an.
Der eine oder andere ist wohl schon im Wahlkampfmodus. Im Oktober 2018 finden Kommunalwahlen statt. Ab jetzt dürfte die Nervosität also nur noch größer werden.
Abgänge des Jahres 2017
Schließlich noch einige Worte über die, die die Bühne auf die eine oder andere Art verlassen haben. Neben Laurette Onkelinx hat auch der MR-Politiker und ehemalige EU-Kommissar Louis Michel angekündigt, seine politische Laufbahn zu beenden. Die frühere CDH-Präsidentin und Föderalministerin Joëlle Milquet will ebenfalls zumindest der nationalen Politik den Rücken zuwenden. Die ehemalige Ecolo-Vizepremierministerin Isabelle Durant wechselte ihrerseits von der Politik zu den Vereinten Nationen.
Sie alle verbindet eines: Eine gewisse Desillusionierung. Sie beklagen die Schnelllebigkeit, den Mangel an inhaltlicher Tiefe und das spürbar rauere Klima, nicht nur innerhalb der Politik, sondern vor allem auch die zunehmend ablehnende Haltung der Bürger gegenüber den Politikern.
Genau dafür gab es in diesem Jahr auch zwei ebenso prägnante wie erschreckende Illustrationen: Am 1. Mai wurde der PTB-Spitzenpolitiker Raoul Hedebouw von einem Mann mit einem Messer angegriffen. Hedebouw wurde leicht verletzt. Am 11. September kam es dann aber sogar zu einer Tragödie: Der CDH-Bürgermeister von Mouscron, Alfred Gadenne, wurde von einem jungen Mann ermordet. Anscheinend aus Rache.
In diesem Jahr sind auch mindestens zwei Menschen gestorben, die das politische und wirtschaftliche Leben des Landes in den letzten Jahren maßgeblich mitgeprägt haben: Anfang des Jahres starb Luc Coene, ehemaliger Kabinettschef von Premier Guy Verhofstadt und später Chef der Nationalbank. Und gerade erst am 7. Dezember starb der langjährige Finanzminister und spätere Chef der Europäischen Investitionsbank, Philippe Maystadt.
Roger Pint