Die Flucht des Berlin-Attentäters führte also doch über Belgien. Bekannt war ja schon, dass Anis Amri es nach Holland geschafft hatte. Am 21. Dezember, also knapp zwei Tage nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, wird Amri im niederländischen Nimwegen am Bahnhof von einer Überwachungskamera gefilmt. Von dort aus hat er den Zug nach Amsterdam genommen. Danach verliert sich dann erstmal die Spur.
Gut 24 Stunden später, am Nachmittag des 22. Dezember, läuft Anis Amri in Lyon wieder vor eine Überwachungskamera. Wie er dorthin gelangt ist, war bislang eins der großen Fragezeichen bei der Nachstellung des Fluchtweges.
Dass die Route über Belgien geführt haben könnte, der Gedanke ist natürlich naheliegend. Die deutschen Polizei- und Justizbehörden hatten die belgischen Kollegen denn auch um Amtshilfe gebeten: Die Belgier mögen doch bitte alle Bilder von Überwachungskameras entlang der möglichen Routen nach Frankreich überprüfen, insbesondere die aus den Bahnhöfen. Und bei dieser Arbeit gab's jetzt also einen Treffer.
Am 21. Dezember um 19:00 Uhr filmten die Kameras im Brüsseler Nordbahnhof einen Mann, auf den die Beschreibungen passen. Die Bilder zeigen eine Gestalt, die die Mütze tief ins Gesicht gezogen hat und die obendrein noch einen dicken Schal trägt - das Gesicht ist also kaum zu erkennen. Und doch sind sich die Ermittler inzwischen sicher, dass es sich hierbei um Anis Amri handelt.
Mit dem Nachtbus von Brüssel nach Lyon?
Amri war demnach mit dem Zug aus Amsterdam nach Brüssel gekommen. Gerade erst hatten die deutschen Behörden einen internationalen Fahndungsaufruf veröffentlicht. Es war sogar eine Belohnung von 100.000 ausgesetzt worden für Hinweise, die zur Ergreifung des Verdächtigen führen. Und eben dieser zu diesem Zeitpunkt meist gesuchte Terrorist Europas läuft also an besagtem 21. Dezember um 19:00 durch den Brüsseler Nordbahnhof.
Genauer gesagt: Amri "irrt" durch das riesige Gebäude. Die Kamerabilder zeigen offensichtlich, wie Anis Amri - mit ein paar Papieren in der Hand - scheinbar planlos durch den Bahnhof schlendert. Er trifft anscheinend niemanden, ist offenkundig auf der Suche nach einer Möglichkeit, von Brüssel aus weiterzureisen. Zwei Stunden nach seiner Ankunft im Nordbahnhof wird er ein letztes Mal gefilmt. Danach verliert sich wieder die Spur. Es gibt keine weiteren Bilder, auch nicht vom Außenbereich des Bahnhofes.
Was hat Amri danach gemacht? Fragezeichen. Die Ermittler gehen davon aus, dass er den Nachtbus eben nach Lyon genommen hat. Die Fahrt mit Zwischenstopp in Paris dauert offenbar knapp 15 Stunden. Fakt ist: Am Nachmittag des darauf folgenden Tages ist Amri am Bahnhof "Lyon-Part-Dieu".
Belgischen Behörden kann kein Vorwurf gemacht werden
Die Episode wirft naturgemäß Fragen auf. Etwa die: Hätte Anis Amri nicht im Brüsseler Nordbahnhof festgenommen werden können? Experten winken ab: "Wie hätte der Terrorist denn der Polizei ins Netz gehen sollen?", fragt sich die VRT-Justizspezialistin Sofie Demeyer. Das gehe in der Regel ja nur über eine Ausweiskontrolle. Niemand wusste aber, wo Anis Amri war. Er hätte genauso gut noch in Deutschland sein können. Hätte man also in ganz Europa die Airports, Häfen und Bahnhöfe sperren und systematische Personenkontrollen durchführen müssen? Sie sei jedenfalls der Ansicht, dass man den belgischen Behörden da nichts vorwerfen könne, sagt Sofie Demeyer.
Auch vor dem Hintergrund, dass Amri eben unbehelligt durch ganz Europa reisen konnte, will Belgien ja jetzt vorpreschen: Innenminister Jan Jambon plant die Einführung eines Systems zur systematischen Erfassung von Fahrgastdaten, das auch für Züge und Reisebusse gelten soll. Die Nationale Eisenbahngesellschaft SNCB will ihrerseits zeitnah 750 neue Überwachungskameras in den Bahnhöfen installieren, darunter auch Geräte, die mit einer automatischen Gesichtserkennung ausgestattet sind.
Kein konkreter Fluchtplan, keine Helfer
All das würde vielleicht doch dabei helfen, die Flucht eines Verbrechers zumindest im Nachhinein nachzuvollziehen. Dass zweieinhalb Wochen nach dem Attentat immer noch nicht klar ist, welchen Weg Anis Amri genommen hat, mag tatsächlich für ein gewisses Befremden sorgen. In einem Punkt sind die Ermittler aus den verschiedenen Ländern aber im Moment einig: Amri hat offensichtlich improvisiert. Es gab keinen konkreten Fluchtplan.
Als er von Lyon über Chambery nach Italien gelangt war, musste er sich dort bei Passanten informieren, wie er weiter nach Süden reisen konnte. Seine Flucht endete ja dann in Mailand, wo er in eine zufällige Personenkontrolle geriet, das Feuer auf die Polizisten eröffnete und dann von den Beamten erschossen wurde.
All das mag auch darauf hindeuten, dass Amri auch keine Helfer hatte: Er war auf sich allein gestellt. Deswegen geht man derzeit auch nicht davon aus, dass Anis Amri Teil eines Netzwerkes gewesen wäre.
Roger Pint - Illustrationsbild: Dirk Waem/BELGA