Im "Pacte pour un Enseignement d’Excellence", der großen Bildungsreform, die in der Französischen Gemeinschaft auf den Weg gebracht werden soll, taucht diese Idee auf. Bildungsministerin Marie-Martine Schyns wollte wissen, was die Bürger davon halten. Sie beauftragte deshalb die König-Baudouin-Stiftung damit, einen Bürgerdialog zu dem Thema zu organisieren.
Einfache Bürger und keine Lehrer, Experten oder Schüler hatte die König-Baudouin-Stiftung zu der eintägigen Klausur geladen, die hinter verschlossenen Türen stattfand. Denn genau darum ging es: Zu schauen, welche Akzeptanz der Vorschlag der Französischen Gemeinschaft, das Sitzenbleiben in der Schule abzuschaffen, bei ganz normalen Bürgern finden könnte.
Grundsätzlich eine gute Idee, aber nicht um jeden Preis
Das Ergebnis war relativ klar: Vorsichtig nämlich scheint der gemeine Frankophone in Belgien zu sein, wenn es um die Abschaffung des Sitzenbleibens geht. Grundsätzlich könnte das eine gute Sache sein - aber nur unter Bedingungen.
Warum, das fasste die Leiterin der König-Baudouin-Stiftung, Françoise Pissart, gegenüber der RTBF wie folgt zusammen: "Sitzenbleiben ist immer ein Zeichen dafür, dass etwas nicht gut läuft in der Schule." Wenn man sich deshalb nicht mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten beschäftigen würde, mit denen die Schule konfrontiert wird, würde man das Ziel, das man mit der Abschaffung des Sitzenbleibens erreichen möchte, verfehlen.
Was den Bürgern als Voraussetzungen vorschwebt, das Sitzenbleiben abzuschaffen, wurde in sieben Punkten zusammengefasst. Sie lesen sich wie eine Wunschliste, fast wie eine pädagogische Individualbetreuung, die von den Lehrern sehr viel Aufmerksamkeit für die Entwicklung jedes einzelnen Schülers verlangt.
Françoise Pissart hob drei der sieben Punkte hervor: "Wichtig ist den Bürgern vor allem, dass viel Wert auf die Stärkung des Selbstwertgefühls der Schüler gelegt wird. Wichtig ist auch, die Lust aufs Lernen bei den Schülern zu wecken, eine eigene Motivation. Und bei den ganzen Vorschlägen ist auch wichtig, den Schülern eine Lernmethode zu vermitteln, die den individuellen Bedürfnissen jedes einzelnen Schülers Rechnung trägt."
Auch wirtschaftliche Interessen?
Das Wohl und die positive Entwicklung des jungen Menschen sollen also im Vordergrund stehen. Das verdeutlichte auch noch eine grundsätzliche Forderung der Bürger: Das Ziel der Reformen - also auch der Überlegung, das Sitzenbleiben eventuell abzuschaffen - müsste die bestmögliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sein, und nicht wirtschaftliche Interessen.
Dass diese bei den Plänen aber durchaus eine Rolle spielen könnten, ist klar. Rund 400 Millionen Euro pro Jahr kostet es die Französische Gemeinschaft, dass Schüler sitzen bleiben. Fast jeder zweite 15-Jährige hat schon einmal eine Klasse wiederholt.
Bildungsministerin Marie-Martine Schyns zeigte sich zufrieden mit den Ergebnissen des Bürgerdialogs. Im Hinblick auf die mögliche Abschaffung des Sitzenbleibens sagte sie: "Ab dem Moment, an dem die zentrale Gruppe des "Pakts für ein exzellentes Bildungswesen" ebenfalls solche Empfehlungen formulieren wird, denke ich, dass wir zu einer Beschränkung der Möglichkeiten zum Sitzenbleiben übergehen sollten. Aber das kann kein Verbot sein, nicht per Dekret verordnet werden. Denn das bedarf einer Änderung der bisherigen Abläufe und Praktiken in der Schule. Man muss auch Hilfen für die Lehrer vorsehen, die das neue System umsetzen sollen. Und das wird alles seine Zeit brauchen."
Kay Wagner - Illustrationsbild: Bruno Arnold (belga)