Die Gewerkschaften werfen den Firmenchefs vor, mit der Regierung unter einer Decke zu stecken. Will heißen: Arbeitgeber und Mitte-Rechts-Parteien machen gemeinsame Sache und die Leittragenden sind die Arbeitnehmer. Von ihnen werden die größten Opfer verlangt. Sie müssen immer flexibler sein, die Produktivität in den Betrieben muss erhöht werden. Und genau dieselben Leute werden dann nochmal zur Kasse gebeten: beim Indexsprung, bei der Erhöhung des Rentenalters und vermutlich durch weitere Sparmaßnahmen.
Die Gewerkschaften protestieren am Freitag also gegen die Regierung, aber auch ganz gezielt gegen die Arbeitgeber. Die Arbeitnehmer bräuchten wieder Perspektiven, keine Umstrukturierungspläne und Entlassungswellen, sagt Marie-Helene Ska von der CSC.
Metall-, Textil- und Lebensmittelbranche besonders betroffen
Viele Arbeitnehmer sind dem Aufruf der Gewerkschaften zu einem Aktionstag gefolgt und haben die Arbeit niedergelegt. Betroffen ist vor allem die Metall-, Textil- und Lebensmittelbranche. Aber auch in Transport- und Sicherheitsfirmen streiken viele Beschäftigten. Vor etlichen Großbetrieben stehen Streikposten.
Bei Brussels Airport in Zaventem streikt ein Teil des Bodenpersonals. Bislang wurden deshalb 50 Flüge gestrichen, etwa 40 Prozent der Flüge haben Verspätung. Ankommende Passagier müssen deutlich länger auf ihr Gepäck warten als sonst.
Auch der öffentliche Nahverkehr in Flandern und der Wallonie wird bestreikt. Bei De Lijn und der TEC kommt es zu Verspätungen und Ausfällen. Bei den Verkehrsbetrieben STIB in Brüssel fahren alle Bus-, Straßenbahn- und U-Bahn-Linien - allerdings nicht so häufig wie gewöhnlich. Die Bahn meldet hingegen keine Probleme durch die Protestaktion.
Tausende Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes protestieren in Wavre, der Heimatstadt von Premierminister Charles Michel. Der Platz Bosch im Zentrum der Stadt ist mit Barrieren abgesperrt worden, viele Polizisten sind im Einsatz.
Auch vor dem Caterpillar-Werk in Gosselies bei Charleroi findet eine Protestkundgebung statt. Rund 500 Demonstranten sind in Gosselies zusammengekommen. 20 Protestler stürmten Büros der Technologieverbands Agoria und haben dabei Computer und Kopierer zerstört. Außerdem versprühten sie den Inhalt eines Feuerlöschers. Laut Angaben des Büroleiters haben die Gewerkschaftler die Beschäftigten zudem bedroht und beleidigt. Das Werk in Gosselies soll geschlossen werden und 2.200 Menschen verlieren ihre Stelle.
Größter Protest vor ING und AXA in Brüssel
Der größte Protest findet am Freitag aber vor den Konzernzentralen von ING und AXA in Brüssel statt. Vor dem Hauptsitz der ING-Bank in Brüssel haben sich am Freitagmorgen mehr als tausend Mitarbeiter versammelt, um gegen den massiven Stellenabbau zu protestieren. Es ist die erste große Kundgebung seit bekannt wurde, dass bei der ING-Bank in den nächsten Jahren 3.500 Stellen gestrichen werden. Die Hälfte der Niederlassungen in Belgien soll verschwinden.
Die Stimmung dort ist gekennzeichnet von Wut, Trauer und Ungewissheit. Wut auf die Chefetage der Bankengruppe, vor allem bei ING. Wut ebenfalls, weil ING Belgien seit Jahren hohe Gewinne macht. Trauer, weil der Schock wenige Tage nach der heftigen Ankündigung natürlich noch tief sitzt. Und Ungewissheit, weil niemand weiß, wer seine Stelle behalten darf und wer gehen muss.
Es wird übrigens nicht nur vor dem Hauptsitz von ING in Brüssel protestiert, sondern belgienweit. Viele Filialen der ING-Bank bleiben am Freitag geschlossen. Die ING-Bank teilt aber mit, dass von den 700 Filialen trotz des Streiks 500 geöffnet sind.
Reaktion von Politik und Arbeitgeber
Die Arbeitgeber warnen vor den heutigen Streikaktionen. Das sei absolut schädlich für das Image Belgiens. Bereits zum 13. Mal seit Amtsantritt der Regierung Michel komme es zu Arbeitsniederlegungen. Das sei eindeutig zu viel und auch kontraproduktiv, sagt Mark Lambotte vom Industrie-Dachverband Agoria. Lambotte warnt davor, dass häufige Streiks abschreckend auf Unternehmen wirken können und dass dadurch Jobs gefährdet werden.
Auch Arbeitsminister Kris Peeters äußerte in der VRT wenig Verständnis für den Streik. Er sagte, er sei beispielsweise bei der Reform der 38-Stunden-Woche immer wieder auf die Gewerkschaften zugegangen. Am Ende müsse die Regierung aber die Entscheidung treffen. Peeters will, dass Arbeitnehmer zeitweise mehr als 38 Stunden pro Woche arbeiten, damit Unternehmen besser auf kurzfristige Mehrarbeit reagieren können. Entstandene Überstunden sollen später abgebaut oder ausbezahlt werden.
Auch OpenVLD-Vizepremier Alexander De Croo erklärte, er habe kein Verständnis für den Streik. Der Arbeitsmarkt habe noch nie so viele neue Stellen geschaffen, noch nie seien so viele Menschen in Arbeit gewesen wie heute, sagte De Croo. Auch die Löhne seien gestiegen.
rtbf/vrt/belga/est/akn/mg/okr - Karikatur: Valentine Lilien