"Brüssel: Ein Viertel aller Hotel- und Gaststättenbetriebe von der Pleite bedroht", titelt Le Soir. Die Hauptstadt leidet weiter unter den Folgen der Anschläge vom 22. März und generell der terroristischen Bedrohung. Im sogenannten Horeca-Sektor ist die Situation weiter angespannt. Über 2.500 der insgesamt 12.000 Hotels, Restaurants und Cafés stehen offenbar vor dem Bankrott. Aber auch andere Tourismushochburgen des Landes sind betroffen: Im Vergleich zum Vorjahr sind etwa 15 Prozent weniger Touristen nach Brügge gekommen.
Auch vor diesem Hintergrund will die Föderalregierung schnellstmöglich eine internationale Werbekampagne lancieren, um das Image des Landes aufzupolieren. Premier Charles Michel hat dafür vier Millionen Euro in Aussicht gestellt.
Prinzipiell ist das natürlich eine gute Idee, meint Le Soir in seinem Leitartikel. Mit Worten allein wird man aber das Problem nicht lösen. Keine Imagekampagne dieser Welt löst die tatsächlichen und unbestreitbaren Probleme in diesem Land: bröckelnde Tunnels, Museen mit undichten Dächern, mittelalterlich anmutende Gefängnisse, obendrauf eine mitunter handlungsunfähige Justiz und ein nicht gelöstes Radikalisierungsproblem... Auch vier Millionen Euro werden nicht reichen, um den Eindruck aus der Welt zu schaffen, dass dieses Land nicht mehr funktioniert.
Zeit, dass die Regierung einen Gang hochschaltet
L'Echo sieht das genauso. Im Grunde zäumt die Regierung das Pferd von hinten auf. Eigentlich müsste die Reihenfolge so aussehen: Erst löst man die offensichtlichen Probleme und dann erst lanciert man einen hübschen Kommunikationsplan. Zugegeben: Die ganze Latte von Problemen in diesem Land kann man nicht über Nacht lösen. Es wird aber Zeit, dass die Regierung einen Gang hochschaltet.
Eines der besagten Probleme ist der andauernde Streik in den wallonischen und Brüsseler Haftanstalten. Am Abend war eine neue Schlichtungsrunde zwischen den Gewerkschaften und dem föderalen Justizminister Koen Geens ergebnislos zu Ende gegangen. Der Streik geht damit mindestens bis Montag weiter. Seit fast vier Wochen dauert diese Pattsituation nun schon an. "Meine Geduld ist unendlich", betont der Justizminister aber in L'Echo. So besonnen das zunächst klingen mag, das ist wohl auch in gewisser Weise eine Warnung.
Ein dickes Fell braucht er allerdings auch. "Häftlinge schicken Gerichtsvollzieher zum Justizminister", so die Aufmachergeschichte von Het Nieuwsblad. Eine Gruppe von Gefängnisinsassen fordert insgesamt knapp 200.000 Euro als Ausgleich für die schlechten Lebensbedingungen infolge des Streiks in den Haftanstalten; eine Art Schmerzensgeld also. Das Gericht hatte den Klägern die Summe auch schon zugestanden; weil bislang aber nichts bezahlt wurde, soll das Geld jetzt über den Kuckuck eingetrieben werden.
Er habe aber nie an Rücktritt gedacht, sagt Koen Geens im Interview mit La Libre Belgique. Der CD&V-Politiker gibt sich betont besonnen und unaufgeregt. Geens nimmt auch den Premierminister in Schutz: Es sei gut gewesen, dass sich Charles Michel aus der Angelegenheit herausgehalten hat. Und auch über die N-VA-Ministerkollegen könne er sich nicht beklagen.
In De Morgen verteidigt sich der Justizminister: Er habe keinen schlechten Charakter, er sei auch nicht bösen Willens. Aber es sei nun einmal so, dass man auch nicht mal eben in allen Punkten nachgeben könne. Und noch etwas: Was ihm am meisten Sorgen bereitet, das ist die Situation der Häftlinge. "Der schwierigste Aspekt in dieser Krise sind die humanitären Folgen. Da kann ich nur sehr schwer mit leben", sagt Geens in De Morgen.
Probleme ja, "failed state" nein
Dass Belgien immer wieder als "failed state", als gescheiterter Staat, bezeichnet wird, das scheint den CD&V-Politiker dann doch zu ärgern. Belgien sei in vielen Bereichen ein Vorbild, sagt Geens in Het Nieuwsblad. Die Gesundheitsversorgung etwa sucht quasi weltweit ihresgleichen. Natürlich gibt es auch Probleme, wir sind aber weit davon entfernt, ein "failed state" zu sein, betont der Minister.
Natürlich hat niemand Belgien mit Somalia verglichen, meint dazu Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Aber mal ehrlich: Wenn Straßentunnels an Schweizer Käse erinnern, wenn Gefängniswärter das Justizministerium kurz und klein schlagen, weil sich das 21. Jahrhundert für sie zu modern anfühlt, wenn Stillstand zur Norm wird, dann ist doch was faul im Staate Belgien. Aber auch der Regierung fehlt es an Ehrgeiz und Ambitionen. Diese Equipe braucht dringend eine Vision und vor allem Teamgeist.
Die Zeitung wählt da bewusst Worte, die gestern auch N-VA-Chef Bart De Wever in den Mund genommen hat. De Wever übte ungewöhnlich scharfe Kritik an der Regierung Michel, der seine Partei ja selber angehört. Diese Regierung lasse "kollektive Ambition" vermissen; es gibt auch keine wirkliche Perspektive. Und das führt dazu, dass selbst positive Entwicklungen am Ende nicht mehr wahrgenommen werden. Beispiel: Die Arbeitslosenrate ist so niedrig wie seit Jahren nicht mehr. Es gibt also ein Wahrnehmungsproblem, glaubt De Wever.
Charles Michel sollte sich an Martens und Dehaene inspirieren
Für einige Leitartikler greift der N-VA-Chef da aber zu kurz. Es liegt nicht nur an der vermeintlich verzerrten Wahrnehmung, nicht nur daran, dass die Menschen die Erfolge dieser Regierung nicht sehen, glaubt etwa Het Laatste Nieuws. Irgendwann muss diese Koalition irgendwo ihr Vertrauen beim Bürger verspielt haben. Charles Michel sollte sich da an einigen seiner Vorgänger inspirieren: Wenn man den Menschen Anstrengungen abverlangt, dann muss man ihnen da auch eine Perspektive geben. Premierminister wie Wilfried Martens oder Jean-Luc Dehaene nahmen die Menschen bei der Hand. Dehaene gab sich mitunter gar väterlich. Beide zeigten demonstrativ Führungsqualitäten.
Und Charles Michel sollte sich auch nicht von den jüngsten Umfragen verrückt machen lassen. Auch Martens und Dehaene haben nach turbulenten Legislaturperioden Wahlen gewonnen. Dies aber eben, weil viele Menschen den Eindruck hatten, eben etwa erreicht zu haben. Ein Tipp also an Charles Michel: Bleib Dir treu, tue, was Du tun musst und schau Dich nicht um.
Auch De Standaard denkt mit scheinbarer Nostalgie an die Zeiten von Martens und Dehaene zurück. Damals trafen Wilfried oder Jean-Luc die wichtigen Entscheidungen zusammen mit ihren Duz-Freunden aus den Gewerkschaften auch schon mal in Hinterzimmern. Das nannte man damals den CVP-Staat. Die Öffentlichkeit, also die Bürger, die kamen in dieser Welt selten vor. Diese Zeiten sind vorbei – und das ist wohl auch gut so. Bedauerlich ist allerdings, dass vielen unterwegs ihre Kompromissfähigkeit abhanden gekommen ist. Bevor man Streikankündigungen hinterlegt, sollte man auch schon über Zugeständnisse nachdenken. Ein Kompromiss ist nur dann möglich, wenn alle Beteiligten ihre jeweils eigene Logik verlassen, sagte Jean-Luc Dehaene. Ein Satz zum Nachdenken.
Roger Pint - Bild: Arthur Gekiere (belga)