Das Foto des toten dreijährigen Aylan am Strand von Bodrum beherrscht heute die Titelseiten der belgischen Tageszeitungen. Das Bild ging am Donnerstag um die Welt und scheint innerhalb kürzester Zeit die Haltung der Menschen und der Politik in der Flüchtlingskrise verändert zu haben. Flüchtlingsorganisationen berichten von einer Welle der Solidarität. Seit Donnerstag ist die Zahl derjenigen, die mit Kleidung, Lebensmitteln, Geld oder persönlichem Einsatz helfen wollen, schlagartig gestiegen.
Aber auch auf politischer Ebene hat der Tod des unschuldigen Kindes, ertrunken auf der Flucht aus einem Kriegsgebiet, zu einer menschlicheren Haltung geführt. Der britische Premier David Cameron gab sich betroffen und zutiefst berührt. In großen Teilen Europas scheint der Donnerstag für einen Ruck gesorgt zu haben.
Der eine Tote zu viel?
Dazu schreibt Le Soir: Ist der Tod des kleinen Aylan nur ein weiterer Tod, oder vielleicht sogar der eine zu viel? Hat er es geschafft, das Gewissen der europäischen Staatschefs zu wecken? Nach Angela Merkel, nach François Hollande sind es jetzt auch diejenigen, die sich bislang nur widerstrebend für eine europäische Solidarität engagiert haben, die am Donnerstag erklärten, Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak empfangen zu wollen. Die Forderung des deutsch-französischen Duos nach verpflichtenden Quoten innerhalb der EU ist als Zeichen einer Einwanderungspolitik zu verstehen, die den Namen verdient.
Es ist aber auch eine gewisse Scheinheiligkeit bei den Staats- und Regierungschefs zu bemerken. Als vor wenigen Monaten 700 Migranten mitten im Meer ertranken, war die Betroffenheit unter den Politikern groß. Trotzdem weigerten sie sich auf Junckers Vorschlag einzugehen, 40.000 Flüchtlinge zu verteilen. Es ist Europa allein, das das Problem lösen kann, schreibt Le Soir.
Symbol von Ohnmacht und Versagen
Das Foto hat unüberhörbar die Herzen Vieler berührt, schreibt Gazet van Antwerpen. Ja, ein Foto kann etwas bewegen. Die Zeitung erinnert an das Bild von Kim, das vietnamesische Mädchen, das nackt und durch Napalm-Bomben verbrannt weinend vor weiteren Bombardements flüchtet. Das Foto wurde zum Symbol für die Gräueltaten der Amerikaner in Vietnam und spielte eine wichtige Rolle für das Zustandekommen eines Waffenstillstands. Doch damals waren die Dinge einfacher. Der Vietnamkrieg wurde fern von zu Haus ausgefochten. Und es gab zwei Parteien. Als sich beide einigten, konnte der Krieg beendet werden.
Bei Aylan ist das viel komplizierter. Der syrische Junge kommt aus einem Land, wo nicht zwei Parteien gegeneinander kämpfen, sondern unzählbar viele. Europa kann diesen Krieg nicht beenden, und das Auffangen der Flüchtlinge funktioniert nicht so, wie man es von einer Union wohlhabender Staaten erwarten könnte. Aylan ist deshalb vor allem das Symbol von Ohnmacht und Versagen. Den Krieg haben wir nicht verhindern können, und dem kleinen Jungen haben wir keine Sicherheit bieten können, analysiert Gazet van Antwerpen.
Passivität der internationalen Gemeinschaft
L'Avenir beschäftigt sich mit den Emotionen, die das Foto ausgelöst hat. Das Bild des ertrunkenen Kindes hat mehr für die Belange der Flüchtlinge getan, als viele andere Bilder von Ertrunkenen. Und sicherlich mehr, als die tausenden Artikel, die zu diesem Thema bereits geschrieben wurden. Doch die Gefühle dürfen uns nicht daran hindern, nach den Ursachen des Dramas zu suchen. Zwischen dem kleinen ertrunkenen Jungen am Strand und den Versäumnissen, die zu der syrischen Katastrophe geführt haben, gibt es nämlich einen Zusammenhang. Der Krieg zwischen dem IS und den Peschmerga in der Gegend von Kobane, dort, wo der kleine Aylan herstammt. Und auch die Zerstörung Syriens durch seinen Präsidenten Assad und den verschiedenen Kriegsparteien.
Doch die Analyse der Gründe endet nicht dort. Dahinter steckt auch die seit vier Jahren andauernde Passivität der internationalen Gemeinschaft im Syrienkonflikt. Es sind Resignation, Fatalität und das Fehlen diplomatischer Initiativen angesichts der seit mehr als 30 Jahren existierenden Schwierigkeiten im Mittleren Osten. Es ist aber auch die Unfähigkeit Europas und der westlichen Demokratien, auf militärischer Ebene einzugreifen, wenn es keine anderen Lösungen gibt. Man kann mit Sicherheit sagen, dass der kleine Junge nicht gestorben wäre, wenn wir nicht vier Jahre lang zugeschaut hätten, wie sich die Situation in Syrien verschlimmert hat, meint L'Avenir.
250 kein ideologisches Limit
Einige Zeitungen beschäftigen sich auch mit der Rolle von Premierminister Michel in der Flüchtlingskrise. Der hatte am Donnerstag erklärt, die Behandlung von 250 Asylanfragen am Tag sei kein ideologisches Limit. Laut Michel habe die Regierung nicht vor, die Zahl der Anfragen zu begrenzen. Derzeit sei zwar nicht mehr möglich, aber die Kapazität müsse angepasst werden. Das könne mehr sein, aber auch weniger. Niemand wisse, was uns in den kommenden Monaten erwartet, so der Premier.
Volker Krings - Archivbild: str/ap