"Es ist ein Kind ertrunken", titelt De Morgen. Darunter das schreckliche Foto, das heute im Übrigen auf fast allen Titelseiten prangt. Es ist das Bild eines kleinen Jungen, der mit dem Gesicht nach unten am Strand liegt. Andere Fotos zeigen einen türkischen Polizisten, der das Kind wegträgt. Aufgenommen wurden die Bilder im türkischen Badeort Bodrum.
"Es ist ein Kind ertrunken", diese Schlagzeile ist so nüchtern, dass sie sarkastisch wirkt. Le Soir hat gar keine Schlagzeile, nur das trostlose Foto, und dann den lapidaren Untertext: "Bodrum, Türkei, 2. September 2015"...
Inzwischen weiß man mehr über das Schicksal des Jungen. Er war Teil einer Gruppe, die versucht hat, auf einem Schlauchboot die griechische Insel Kos zu erreichen. "In einem Spielzeugbötchen haben sie sich auf hohe See gewagt", schreibt Het Nieuwsblad. Und inzwischen kennt man auch den Namen des kleinen Jungen: "Aylan".
Aylan - Ein Foto, das die Welt verändert?
"Der dreijährige Aylan ist ertrunken auf dem Weg zu einem besseren Leben", titelt Gazet van Antwerpen. "Aylan war auf dem Weg ins sichere Europa", schreibt Het Nieuwsblad. Für Het Belang van Limburg ist Aylan das "Symbol der Verzweiflung".
"Wo bleibt der EU-Krisengipfel?", so denn auch die Schlagzeile von De Standaard. "Wenn das Europa nicht berührt, was dann?", fragt sich anklagend Het Laatste Nieuws auf Seite eins.
Am Strand von Bodrum hat wohl schon so mancher von uns im Urlaub ein Eis geschleckt, meint das Blatt. Wie kann sich die Welt so verändern, dass jetzt genau dort ein totes Kind im Sand liegt? Und das Schlimme ist: Das wird wohl nicht das letzte Foto dieser Art sein, wenn die Regierungen in Europa nicht endlich zur Besinnung kommen. Manchmal verändert ein Foto die Welt, manchmal rüttelt es die Menschen wach. Und nicht selten waren es Bilder von Kindern. Die Botschaft lautet dann nämlich: "Das ist nicht die Welt, in der wir leben wollen". Das Foto von Aylan, das ist so ein Bild, meint Het Laatste Nieuws.
Auch Le Soir erinnert an die Fotos, die die Welt verändert haben. Zum Beispiel das berühmte Bild von 1972 aus dem Vietnam-Krieg, das ein vietnamesisches Mädchen zeigt, das von Napalm verbrannt ist und nackt vor einem Angriff flüchtet. Oder die Bilder von der eingestürzten Fabrik in Bangladesch, wo Billigklamotten für den westlichen Markt hergestellt wurden.
Von Populisten und der "Mauer des Schweigens"
Auch deswegen war es unsere journalistische Pflicht, das Foto von Aylan zu veröffentlichen, meint Het Nieuwsblad. Mehr als alle anderen symbolisiert dieses Bild die Tragik der Flüchtlingskrise. Die Tatsache, dass dieses Foto wohl niemanden unberührt lässt, das kann allerdings nur der Anfang sein. Mehr denn je bedarf es Antworten auf die Frage, wie man denn jetzt mit der Krise umgehen soll. Und da brauchen wir konstruktive Vorschläge, keine Maßnahmen, die zwar in den Ohren der Bevölkerung gut klingen, aber in der Praxis nicht umsetzbar sind.
De Morgen schlägt in dieselbe Kerbe. Man würde ja eigentlich erwarten, dass das unerträgliche Foto des toten Aylan die Politik endlich wachrüttelt. Dabei stimmt eher das Gegenteil. In Belgien weigert sich der zuständige Asylstaatssekretär Theo Francken, auf eine Krisensituation mit einem Krisenplan zu reagieren. Schlimmer noch: Heute kommen vier osteuropäische Staaten zu einem separaten Krisengipfel zusammen, nämlich Ungarn, Tschechien, Polen und die Slowakei. Diese Länder werden sich da wohl gegenseitig in ihrer Verweigerungshaltung bestätigen. Es wird Zeit, dass sich die Politiker endlich befreien von ihrer lähmenden Angst vor den rechtsextremen und fremdenfeindlichen Strömungen innerhalb ihrer Bevölkerungen.
Das gilt aber auch für Belgien, mahnt Le Soir. Im Augenblick glänzen die meisten Politiker durch ohrenbetäubendes Schweigen. Man hört allein die Populisten, denen quasi integral das Feld überlassen wird. Wir brauchen Politiker, die jetzt ihre Verantwortung übernehmen, die klar Farbe bekennen, die eine Richtung vorgeben. Wir warten aber immer noch auf den ersten belgischen Spitzenpolitiker -abgesehen von Bart De Wever mit seinen simplen Scheinantworten, der diese Mauer des Schweigens durchbricht. Denn, gerade im vorliegenden Fall gilt: Schweigen ist Gift...
"Versucht es doch lieber in Deutschland!"
Apropos Belgien. Viele Zeitungen bringen auch heute Reportagen, die die Lage vor dem Ausländeramt in Brüssel zeigen. Dort ist inzwischen ein improvisiertes Auffanglager entstanden, wo die Menschen ausharren, die vom Ausländeramt abgewiesen werden mussten. "Zeltlager im Herzen Europas", so die anklagende Schlagzeile im Innenteil von Het Nieuwsblad. "Die Bürger helfen, die Behörden schauen zu", schreibt De Morgen. Tatsächlich ist es so, dass die zuständigen Stellen, sowohl der Stadt Brüssel als auch des Föderalstaats, nur sehr zögerlich auf das Chaos reagiert haben.
Asylstaatssekretär Theo Francken hatte aber am Mittwoch noch die bisherige Herangehensweise gerechtfertigt. "Mehr als 250 Asylanträge pro Tag zu bearbeiten, das ist nicht möglich", sagte Francken. Auch deswegen kündigte das Flämische Flüchtlingshilfswerk an, gegen den N-VA-Politiker juristisch vorgehen zu wollen. "Francken hat eine Klage am Hals", notiert De Morgen.
Het Belang van Limburg kann das nicht nachvollziehen. Jeder sieht doch, dass die Situation außergewöhnlich ist, meint das Blatt. Belgien ist auch längst nicht das einzige Land, in dem die Behörden mit dem Ansturm überfordert sind. Eine Klage hilft da wenig. Vielmehr sollte man sich auf die Suche nach provisorischen Auffangstrukturen machen. Auf dem Heysel-Gelände ist doch bestimmt noch ein Palais frei, empfiehlt Het Belang van Limburg.
De Standaard sieht dagegen sehr wohl die Schuld bei Theo Francken. Man kann doch keinem weißmachen, dass es unmöglich ist, Notfallmaßnahmen zu ergreifen, um sich auf die Lage einzustellen. Diese kafkaesken Zustände am Ausländeramt haben doch System. Zwischen den Zeilen steht hier die Botschaft: "Versucht es doch lieber in Deutschland". Auch das ist letztlich aber nur eine Folge der Tatsache, dass es in der EU keine einheitliche Asylpolitik gibt. Jeder versucht, dem jeweils anderen die Flüchtlinge unterzuschieben.
Bleiberecht und Integration
In diesen Zusammenhang passt die Aufmachergeschichte von Het Belang van Limburg: "Theo Francken will den Flüchtlingen ein zeitweiliges Bleiberecht geben". Bislang ist es so, dass Kriegsflüchtlinge eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Der Asylstaatssekretär will das also ändern. Sie dürften demnach erstmal ein Jahr bleiben. Das kann dann gegebenenfalls verlängert werden, abhängig davon, wie sich die Lage in ihrer Heimat entwickelt hat. Unerwartete Unterstützung bekommt Francken da übrigens vom S.PA-Vorsitzenden John Crombez in De Morgen.
Doch letztlich weiß niemand, wie sich die Lage mittelfristig entwickeln wird, gibt L'Avenir zu bedenken. Deswegen sollte man dringend an die nächste Etappe denken: Die Flüchtlinge müssen rasch ihren Platz in unserer Gesellschaft finden. Und genau hier, bei der Integration also, haben die belgischen Behörden in der Vergangenheit immer versagt. Deswegen müssen dringend Einbürgerungskurse angeboten werden, die diesen Namen wirklich verdienen.
Roger Pint - Bild: str/afp