"Schaffen es 250 Tote, die EU-Staaten auf einen Nenner zu bringen?", titelt De Standaard. "Europa ist in der Flüchtlingskrise mehr denn je gespalten", schreibt auch La Libre Belgique auf Seite eins.
Die letzten Tage waren wieder geprägt von einigen dramatischen Flüchtlingstragödien. Vor der libyschen Küste sind 180 Migranten ertrunken, hinzu kommen dann noch einmal die 71 Toten aus dem Kleinlastwagen in Österreich. Das könnte jene EU-Staaten zum Umdenken bewegen, die sich bislang weigern, eine größere Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, meint De Standaard.
"Europa hat zwei Gesichter", notiert La Libre Belgique. Auf der einen Seite ist die Bestürzung groß, insbesondere angesichts der Tragödie in Österreich. Auf der anderen Seite mauern sich einige EU-Staaten weiter buchstäblich ein.
Das hässliche Gesicht des Alten Kontinents
Diesen Gedanken spinnt La Libre Belgique in ihrem Leitartikel weiter. Man ist sprachlos angesichts des schlechten Willens einiger EU-Staats- und Regierungschefs. Wir sind mit der schlimmsten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Und die EU mit ihren 550 Millionen Einwohnern will nicht imstande sein, 300.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Hier zeigt sich das hässliche Gesicht des Alten Kontinents, repräsentiert auch durch diejenigen, die dumme Hassparolen von sich geben, die Schreckgespenster an die Wand malen, die mitunter sogar Flüchtlingsheime abfackeln. Es gibt aber auch das hilfsbereite Europa. Vornehmste Vertreterin dieser hoffnungsvollen Seite ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Auch L'Avenir kann die ablehnende Haltung den Flüchtlingen gegenüber nicht nachvollziehen. Immer noch wird da über angebliche Glücksritter schwadroniert, die von dem derzeitigen Chaos profitieren wollen, um ins Gelobte Land zu kommen. Andere sehen in dem Flüchtlingsstrom eine einzige Terrorgefahr. Da wird mit Vorurteilen und Klischees jongliert, werden Halbwahrheiten und Gerüchte verbreitet. Sehen diese Leute das Elend nicht? Sehen sie nicht, dass diese Menschen um Leib und Leben fürchten müssen? Spätestens das Drama in Österreich sollte wie eine schallende Ohrfeige wirken und dafür sorgen, dass an die Stelle des jämmerlichen Egozentrismus endlich wieder die Vernunft rückt.
Peinliches Antwerpen
Als Reaktion auf die Flüchtlingskrise hat die Regierung gestern die Einrichtung neuer Auffangstrukturen beschlossen. "6.600 zusätzliche Plätze für Asylsuchende", so die Schlagzeile von Het Laatste Nieuws. Insgesamt will die Regierung die Gesamtzahl der zur Verfügung stehenden Plätze von 16.000 auf 28.000 erhöhen. Unter anderem startete der zuständige Asylstaatssekretär Theo Francken einen Aufruf an die Gemeinden, ebenfalls nach Unterbringungsmöglichkeiten zu suchen. Eine spektakuläre Absage auf diesen Appell bekam der N-VA-Politiker aber ausgerechnet aus Antwerpen, wo doch eigentlich sein Parteichef Bart De Wever Bürgermeister ist. Antwerpen sei ausgelastet, teilte der örtliche ÖSHZ-Präsident mit.
"Das ist eine Schande", wettert De Morgen in seinem Leitartikel. Diese Verweigerungshaltung ist peinlich, gerade für eine Stadt, deren Geschichte immer wieder um Verfolgung und Flüchtlingsdramen drehte. Peinlich aber auch für eine Partei, die ihren zugegebenermaßen mutigen Staatssekretär einfach im Regen stehen lässt.
"Gemeinschaftsdienst" für Flüchtlinge
In diesem Zusammenhang passt ein Vorstoß von Patrick Dewael, dem Fraktionsvorsitzenden der flämischen liberalen OpenVLD in der Kammer. Der schlägt in De Standaard vor, dass alle Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung einen "Dienst an der Allgemeinheit" leisten müssen. In ihrem Kommentar ist die Zeitung aber wenig begeistert. Solche Vorschläge gab es auch schon in Bezug auf Langzeitarbeitslose. Dabei hat sich immer gezeigt, dass ein solcher verpflichteter Gemeinschaftsdienst nicht leicht zu organisieren ist. Außerdem muss man darauf achten, dass hier keine Konkurrenz zum regulären Arbeitsmarkt entsteht. Aber mal ganz davon abgesehen: Man darf bezweifeln, dass ein Gemeinschaftsdienst der beste Start für eine gelungene Integration wäre. Was haben wir von einem syrischen Chirurgen, der die Straße fegt, dafür aber keine Zeit hat, Niederländisch zu lernen?
"Wir werden an einer Prüfung des Schengen-Abkommens nicht vorbeikommen", sagt derweil Premierminister Charles Michel auf Seite eins von L'Echo. Das Schengen-Abkommen regelt den freien Personenverkehr in Europa, also die Tatsache, dass es keine Grenzkontrollen mehr gibt. N-VA-Chef Bart De Wever hatte in dieser Woche schon Kritik geübt und davor gewarnt, dass Staaten am Ende wieder dazu übergehen könnten, ihre Grenzen selbst zu bewachen.
Den Frieden erkauft
Die Regierung ist gestern zu ihrer ersten Sitzung nach der Sommerpause zusammengekommen. Im Vorfeld hatte Premier Michel aber erstmal die Wogen glätten müssen. Zwischen dem CD&V-Vizepremier Kris Peeters und dem OpenVLD-Kollegen Alexander De Croo gab es einen handfesten Streit: Peeters warf De Croo Vertrauensbruch vor, weil der interne Informationen an die Presse weitergegeben haben soll. De Standaard spricht in diesem Zusammenhang von einem "bewaffneten Frieden". Peeters und De Croo gehen wieder durch dieselbe Türe, allerdings nur halbherzig. "Michel erkauft sich den Frieden", so formulieren es hingegen Het Laatste Nieuws und De Morgen. Die Regierung hat nämlich gestern zwei Entscheidungen getroffen, die ganz offensichtlich der CD&V entgegenkommen. Zum einen wird der niedrigste Steuersatz gestrichen, was also den kleinen Gehältern zugute kommt. Zum anderen werden die Strompreise weiter bei der Indexberechnung berücksichtigt.
Flickwerk
Im Grunde sind das immer noch Nachjustierungen an dem ominösen Tax-Shift. Gerade in den letzten Tagen hat sich gezeigt, dass viele der im Juli angekündigten Maßnahmen noch gar nicht ausformuliert waren. Sprich: Über die genauen Details hat die Regierung noch gar nicht gesprochen. "Also er könne sich nur wundern angesichts dieses Flickwerkes", sagt PS-Chef Elio Di Rupo in Le Soir. Und in ihrem Leitartikel schließt sich die Zeitung dieser Einschätzung an. Es kann doch nicht sein, dass die Regierung hier eine Steuerreform mit Pauken und Trompeten vorstellt, die im Grunde noch gar nicht spruchreif war. Oder ist es normal, dass man noch gar keinen Schimmer hat, wie man die versprochene Senkung des Arbeitgeberanteils von 33 auf 25 Prozent überhaupt bewerkstelligen soll? So gewinnt man jedenfalls nicht das Vertrauen der Bürger.
Schluss mit lustig!
"Hebt bitte endlich die Messlatte an", fordert auch das flämische Massenblatt Het Laatste Nieuws. Auch ohne ausformuliert zu sein, fehlt es dem Tax-Shift schon an Mut und Ambition. Das gilt aber auch für viele andere Dossiers: Energiepolitik, SNCB, Pensionsreform, überall gibt es zwar gute Vorsätze, das wars dann aber auch. Und dann noch eine Feststellung: Diese Regierung sorgt sich offensichtlich nur um zwei Bevölkerungsgruppen: die richtig Armen und die richtig Reichen. Was dazwischen liegt, bezahlt die Zeche.
"Wer hilft der Mittelklasse?", fragt sich auch L'Écho. Eben diese Mittelklasse wird nämlich von allen möglichen Steuern und Abgaben malträtiert. Dabei ist sie es, die das Land drehen lässt. Die Regierung vergisst, Arbeit zu belohnen.
Das alles ist Grund genug für die Regierung, sich endlich am Riemen zu reißen, mahnt Het Nieuwsblad. Die CD&V etwa kann nicht weiter für jedes Kinkerlitzchen mit dem Sturz der Regierung drohen. Wenn das erste Jahr auch noch wie ein Hürdenlauf anmuten darf, vier Jahr hält das niemals durch.
Roger Pint - Bild: Vladimir Simicek/AFP