Neuwahlen - ein flämisches Diktat?!
"Am 6. oder am 13. Juni?", stellt sich die Brüsseler Tageszeitung Le Soir auf ihrer Titelseite die Frage nach dem wahrscheinlichen Wahltermin.
Für Het Laatste Nieuws hat der "Wahlkampf bereits begonnen".
La Libre Belgique geht ihrerseits auf Seite 1 schon einen Schritt weiter: "Leterme schließt den König kurz". Tatsächlich hat der scheidende Premierminister schon Neuwahlen angekündigt, während König Albert II. noch nach einem Ausweg aus der Krise sucht. Dabei hat Leterme auch die bisherigen Koalitionspartner nicht konsultiert. Sehr zum Leidwesen der frankophonen Parteien, die allesamt vorgezogene Neuwahlen für sehr gefährlich halten. Kommentierend meint dazu La Libre Belgique: Eine Handvoll flämischer Zauberlehrlinge zwingt dem Land Wahlen auf. Und das trotz der Tatsache, dass sich die Frankophonen geschlossen mit Händen und Füßen dagegen wehren. Die jüngsten Ereignisse sind schlichtweg erschreckend. Niemand hat eine einzige Partei, einen Mann, nämlich Alexander De Croo, davon abhalten können, die Regierung auf dem Altar von Parteiinteressen zu opfern. Und dann ist auch noch gleich die CD&V auf diesen Zug aufgesprungen. Flandern hat einseitig Wahlen ausgerufen, ohne das Ende der Konsultationen des Königs abzuwarten, und ohne das Einverständnis der Frankophonen. Das lässt nur einen Schluss zu: Rien ne va plus, nichts geht mehr.
Neuwahlen - Notwendigkeit oder Gefahr
Das Börsenblatt L'Echo sieht das Ganze eher nüchtern: Was soll dieser ganze Zirkus um die Frage nach Neuwahlen? Warum den Kopf in den Sand stecken? Niemand glaubt mehr an diese Regierung. Wenn sich Flamen und Frankophonen jetzt auch schon nicht mehr über das Abhalten von Wahlen einig werden, dann wird der Graben zwischen beiden nur noch tiefer. Wenn die Frankophonen eine solche Angst vor Wahlen haben, dann hätten sie sich das früher überlegen und ernsthaft nach einer Lösung für das Problem BHV suchen müssen.
La Dernière Heure indes versteht die Vorbehalte der Frankophonen. Jetzt Neuwahlen abzuhalten birgt eine unheimliche Gefahr. Erstens: Weil das Problem BHV nicht gelöst ist, droht ein juristisches Chaos. Und zweitens: Auf flämischer Seite dürften vor allem die nationalistischen Parteien als Gewinner aus der Wahl hervorgehen. Für die Zukunft des Landes verheißt das nichts Gutes.
Das Grenz-Echo schlägt in dieselbe Kerbe: den Compromis à la belge gibt es nicht mehr. Für die Politik gelten nur noch Eigeninteressen, Staatsräson ist ein Fremdwort und Neuwahlen wären eine Katastrophe, denn sie lösen nichts, sondern machen alles nur noch schlimmer. Außer dem Chaos wäre dann nichts mehr gewiss.
Belgien - doch kein zweites Griechenland?
In der Zwischenzeit schwelt die Krise weiter. Bislang hat das aber noch nicht den Druck auf die belgische Staatsschuld an den Märkten spürbar ansteigen lassen, notiert unter anderem De Tijd. Die Krise habe noch keine direkten Auswirkungen für Belgien auf dem Obligationenmarkt, werden Analysten zitiert. "Belgien wird kein zweites Griechenland" glaubt auch der renommierte Ökonom Geert Noels in Gazet van Antwerpen. Die meisten Wirtschaftszuständigkeiten liegen ohnehin bei den Regionen. Außerdem stehe Belgien immer noch viel gesünder da, als viele andere EU-Staaten.
Die Zukunft des Yves Leterme
Mit der Aussicht auf Neuwahlen stellt sich unterdessen für Yves Leterme die Frage nach seiner politischen Zukunft. In der Presse ergibt sich da ein diffuses Bild. De Standaard etwa titelt: "Die CD&V lässt Yves Leterme nicht fallen". Das exakte Gegenteil steht auf der Titelseite von Het Nieuwsblad: "Die CD&V verliert ihren Glauben an Leterme." Für Het Nieuwsblad steht jedenfalls fest, dass die jüngsten Entwicklungen die CD&V auf dem völlig falschen Fuß erwischt haben. Die Christdemokraten sind fest davon ausgegangen, dass es in der derzeitigen Situation niemand wagen würde, die Regierung zu Fall zu bringen. Und dann kam Alexander De Croo. Jetzt ist für die CD&V das Horrorszenario eingetreten: Man muss sich dem Votum des Wählers stellen, mit absolut leeren Händen. Symbolfigur für dieses Scheitern ist zweifelsohne Yves Leterme. Hinter den Kulissen spricht man bei der CD&V dann auch schon von einem "Leterme-Problem".
Leterme selbst scheinen derweil keine Zweifel zu beschleichen, glaubt auch Het Laatste Nieuws. Für Leterme ist klar, dass er auch in Zukunft eine Hauptrolle spielen wird. Er ist enttäuscht, aber noch nicht politisch tot, fasst das Blatt zusammen.
Zeit für die Gretchenfrage
Doch Wahlen hin, Leterme her: Es stellt sich vor allem die Frage, wie es in diesem Land auf Dauer weitergehen soll. für Le Soir hat die Krise der letzten Tage jedenfalls gezeigt, dass das belgische Modell an seine Grenzen gestoßen ist. Jetzt wird es Zeit, dass jede Partei, im Norden wie im Süden des Landes, klar Farbe bekennt: Jeder muss deutlich machen, wie er sich das Belgien von morgen vorstellt. Auch die Frankophonen müssen mit einem konkreten Projekt vor die Wähler treten und damit die Bürger mitentscheiden lassen, wo die Reise hingehen soll. Föderalstaat oder Konföderation? Über diese Frage müssen wir jetzt offen und ehrlich miteinander reden.
Für De Standaard ist indes eines jetzt schon deutlich: Es wird nicht reichen, morgen einfach nur die Scherben wieder zusammenzukleben. Es muss jedem klar sein, dass das Spiel das wir bislang miteinander gespielt haben, der Vergangenheit angehört. Es gib nur zwei Möglichkeiten: Entweder, jeder bleibt künftig in seiner Ecke, oder aber wir erfinden unser Zusammenleben neu. Und kommt es tatsächlich zu Neuwahlen, dann öffnet sich dafür ein ungeahntes Fenster: Vier Jahre ohne Wahlen.