"Mai 2014: der Zusammenstoß, Mai 2015: die Aussöhnung", titelt Le Soir. "Die zwölf Monate, die Belgien verändert haben", so die Schlagzeile von La Libre Belgique.
Viele Zeitungen ziehen heute, exakt ein Jahr nach der "Mutter aller Wahlen", eine erste Bilanz. La Libre Belgique beginnt zunächst mit der wohl sichtbarsten Feststellung: Am 25. Mai 2014 fuhr die N-VA einen spektakulären Wahlsieg ein. Und danach schaffte sie auch die Regierungsbeteiligung und zieht in der Koalition sogar die Strippen. "Historisch", meint das Blatt.
Auch Le Soir wirft zunächst einen Blick zurück: Vor genau einem Jahr gingen sich die Parteien regelrecht ans Leder. Und auch die Monate danach waren von zum Teil erheblichen Spannungen geprägt. Bis heute haben sich die Beziehungen insbesondere zwischen den frankophonen Parteien nicht normalisiert. Und diese Differenzen stören auch das Verhältnis zwischen dem Föderalstaat und der Wallonie. "Wir müssen das Verhältnis mit der Wallonie normalisieren", sagt MR-Chef Olivier Chastel in Le Soir.
Ein Jahr nach der Wahl - durchwachsene Bilanz
Doch hat die neue Föderalregierung ja auch eine Reihe von Reformen angestoßen. La Libre Belgique zieht da eine "durchwachsene Bilanz". De Morgen spricht von einem "überraschend banalen Regierungsjahr". Insbesondere die N-VA hatte sich ja als die "Kraft der Veränderung" profiliert. Wirklich gemerkt hat man davon aber nicht viel.
Auch Le Soir kann nur feststellen, dass die Regierung nicht für einen "Big Bang", einen großen Knall gesorgt hat. Zwar hat die Koalition mit dem Indexsprung und der Rentenreform zwei durchaus heiße Eisen angepackt; Michel, De Wever und Co. haben aber nicht das Land auf links gedreht. "Keine Revolution, aber doch durchaus nicht unbedeutende Reformen", fasst Le Soir zusammen.
Het Nieuwsblad stellt der Schwedischen Koalition ein Zwischenzeugnis aus: Die Zeitung gibt der Föderalregierung eine gute sechs auf zehn. Einige wichtige Projekte wurden auf die Schienen gesetzt; problematisch sind aber der Zusammenhalt und vor allem die Kommunikation. Jedenfalls hat die Equipe häufiger wegen ihrer internen Streitereien für Schlagzeilen gesorgt als mit ihrer Politik.
Eins muss man jedenfalls immer vor Augen haben, meint Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel: Diese Regierung kann sich nicht auf die übliche Ausrede berufen. Diesmal handelt es sich nicht um eine Koalition, die aus rechten und linken Kräften zusammengewürfelt worden ist. Nein, es ist ganz klar eine Mitte-Rechts-Regierung, die zudem über ein Fenster von fünf Jahren ohne Wahlen verfügt. Die Grundvoraussetzungen sind also da für eine wirklich ehrgeizige, ambitiöse Politik. Im Augenblick steht man sich da aber selbst im Weg. Die Empfehlung der Zeitung: Weniger Streitereien, dafür mehr Bewegung.
Schwache Opposition
Das Bemerkenswerteste an dieser Regierung ist nach wie vor ihre Zusammenstellung, analysiert Le Soir: Nur eine frankophone Partei, dafür drei flämische, von denen eine auch noch ausgewiesen separatistisch ist. Kamikaze-Kabinett, so hat man diese Koalition genannt. Doch man kann nur feststellen: Sie lebt noch. Der Mörtel dieser Koalition, das sind wohl eben ihre Merkwürdigkeiten. In einer ideologisch so homogenen Allianz hat niemand ein wirkliches Interesse daran, die Regierung zu stürzen. Allerdings profitiert die Regierung auch von der Schwäche der Opposition.
L'Echo sieht das genau so. Die Opposition ist immer noch auf der Suche nach sich selbst. Ihr geht es häufig nur um die Form und gar nicht um den Inhalt. Vorschläge abzuschließen oder Minister auf Fehler hinzuweisen, das ist nicht schwer. Auf wirkliche Alternativvorschläge wartet man aber vergeblich. Die einzige Partei, die wirkliche Gegenvorschläge macht, das ist die kommunistische PTB. Nur sind es leider meist populistische Ideen. Insbesondere die PS schafft es nicht, eine wirkliche Vision zu entwickeln. Das Problem ist, dass in dem Moment auch keine Debatten stattfinden können, die inhaltlich wirklich relevant wären.
De Standaard sieht seinerseits auch ein Problem innerhalb des Regierungslagers. Man muss feststellen, dass auch die Koalition unter einer inhaltlichen Leere leidet. Im Grunde beschränkt sich ihre Politik auf ein paar Schlagworte: Haushaltssanierung, Indexsprung, Rentenreform. Danach kommt nicht mehr viel. Und wegen dieses ideologischen Vakuums gestaltet sich auch der Tax-Shift so kompliziert. Im Grunde weiß niemand so ganz genau, was er will.
Tax-Shift und Tabus
Apropos Tax-Shift, hier handelt es sich ja um die große Baustelle, die die Regierung in den nächsten Wochen beschäftigen wird. Je länger man darüber diskutiert, desto verzwickter wird die Akte. Gleich mehrere Zeitungen bringen heute die Tabu-Themen der einzelnen Koalitionspartner. Insbesondere Bart De Wever bringt jeden Tag neue Politikbereiche ins Spiel, die seiner Ansicht nach nicht angerührt werden dürfen. So auch heute in einem Exklusiv-Interview mit der Zeitung L'Echo. "Der Bereich Immobilien wird nicht angerührt", sagt der N-VA-Chef. "Auch die Firmenwagen sind tabu" und sein Fazit: Nur die Reichen zu besteuern, das geht nicht. Man trifft zwangsläufig die Mittelklasse und das wolle er nicht.
"De Wever erhöht den Einsatz", bemerkt denn auch De Morgen. "Ein Tabu jagt das andere", so fasst es De Standaard zusammen.
"Was für ein Trauerspiel", wettert Het Laatste Nieuws. Insbesondere in Flandern stellt das Thema Tax-Shift inzwischen alles andere in den Schatten. Es ist gewissermaßen das schwarze Loch der Rue de la Loi. Doch je größer das Thema wird, desto kleiner dürfte wohl der Tax-Shift am Ende ausfallen. Firmenwagen: tabu. Mieteinkünfte: Finger weg. Reichensteuer: Kappes. Eine Abgabe auf Börsenspekulationen: Peanuts. "Sag', dass das nicht wahr ist", ereifert sich Het Laatste Nieuws. Und wendet sich an die Regierung: "Überrascht uns, erstaunt uns!"
"Im Grunde gibt es in diesem Land nur ein Tabu", frotzelt De Morgen. Offensichtlich ist es hierzulande verboten, langfristig angelegte Politik zu führen. Die Parteien denken nicht weiter als die Nase reicht. Das wohl absurdeste Beispiel sind die Firmenwagen. Weil die Lohnkosten zu hoch sind, gibt es Steuervorteile für Autos, die ihrerseits die Umwelt verpesten und die Straßen verstopfen. Nur will man das Thema aus rein wahltaktischen Gründen nicht anpacken. Neue Regierung hin oder her, aber hier hat sich leider nichts verändert.
Auch vor einem Jahr: der Anschlag auf das Jüdische Museum
La Libre Belgique kommt aber auch noch auf einen anderen Jahrestag zurück, einen traurigen diesmal: Vor einem Jahr gab es den Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel. Das war am Tag vor der Wahl, am Samstag, 24. Mai. Ein Täter war in das Gebäude eingedrungen und schoss auf alles, was sich bewegte: Vier Menschen kamen ums Leben. Inzwischen sitzen zwei Männer in U-Haft, nach einem dritten wird noch gesucht. Auch L'Avenir erinnert an das Ereignis und stellt fest: Die jüdische Gemeinschaft kann die Situation nicht mehr ertragen, dass sie quasi permanent geschützt werden muss.
Fast alle Zeitungen blicken derweil mit Spannung auf den Eurovision Song Contest in Wien. Auch die flämischen Zeitungen haben inzwischen den belgischen Kandidaten Loïc Nottet entdeckt. "Unsere Hoffnung beim Grand Prix", schreibt Het Laatste Nieuws. Het Nieuwsblad gibt sich optimistischer und stellt fest: "Loïc Nottet, vom Nobody zum Topfavoriten".
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