"Steve Stevaert, das tragische Ende", titelt Le Soir. "Grandios gelebt, verzweifelt gestorben", schreibt Het Belang Van Limburg. "Niemand kannte sein Geheimnis", so die Schlagzeile von Het Laatste Nieuws.
De Morgen hat eine ganz nüchterne Titelseite: Man sieht einen schwarzen Schatten; es sind die Konturen von Steve Stevaert, zu erkennen an der unverwechselbaren Nase und dem Stirnhaar, das immer etwas wild war. Daneben: zwei Jahreszahlen: 1954 - 2015: Stevaert wurde 60 Jahre alt.
Steve Stevaert hat offensichtlich Selbstmord begangen. Die Verzweiflungstat war wohl seine Reaktion auf eine Pressemeldung, die am selben Morgen in der Zeitung De Tijd gestanden hatte. Demnach musste Steve Stevaert sich wegen Vergewaltigungsvorwürfen vor einem Strafgericht verantworten. Die Ermittlungen liefen bereits seit zwei Jahren, er habe die Sache aber absolut geheim gehalten, schreibt Het Laatste Nieuws. Selbst sein Anwalt habe nichts davon gewusst. Besagte mutmaßliche Vergewaltigung geht auf das Jahr 2010 zurück, das Opfer hatte aber erst 2013 Anzeige erstattet. Bei seinen Vernehmungen soll Steve Stevaert immer wieder nachdrücklich betont haben, dass er absolut nicht wolle, dass die Sache an die Öffentlichkeit kommt.
"Der Vergewaltigung beschuldigt beschließt Steve Stevaert, seinem Leben ein Ende zu setzen", so denn auch die Schlagzeile von La Dernière Heure. Er habe es einfach nicht ertragen, dass die Vergewaltigungsvorwürfe ans Licht gekommen waren. "Er hat für sich selbst beschlossen, dass es zu viel war", schreibt Het Nieuwsblad auf Seite eins.
Steve Stevaert - Rockstar, Idol, Komet
Viele Zeitungen erinnern schon auf ihrer Titelseite daran, was Steve Stevaert für ein Mensch war. "Trauriges Ende für einen politischen Star", titelt Gazet Van Antwerpen. L'Avenir nennt ihn einen "Rockstar der Politik", La Libre Belgique spricht vom "Idol des Volkes". "Schwarzes Ende eines politischen Kometen", schreibt De Standaard auf Seite eins. In der Tat: Steve Stevaert war eine Zeit lang die Lichtgestalt am flämischen Politikhimmel. Er war Vorzugstimmen-Champion und führte die flämischen Sozialisten zu spektakulären Wahlsiegen. 2005 verließ er die Brüsseler Politikbühne und wurde Gouverneur der Provinz Limburg; 2009 zog er sich vollends zurück.
Viele Leitartikler sehen in ihm denn auch so eine Art Ikarus. Das Beispiel Steve Stevaert hat gezeigt, wie hoch ein Spitzenpolitiker fliegen kann, bemerkt etwa Het Nieuwsblad. Gestern hat sich schmerzlich gezeigt, wie tief er fallen kann. Stevaert war in vielerlei Hinsicht atypisch. Der ehemalige Kneipenwirt war ein Autodidakt, Intellektuellen misstraute er. Er hatte ein untrügerisches Gespür für die Volksseele. Nicht umsonst war er der Vater der Gratisbusse in seiner Heimatstadt Hasselt. Er hatte nur eine Achillesferse: die Frauen. Nach einem ersten Sexskandal vor einigen Jahren haben ihm die Vergewaltigungsvorwürfe jetzt offensichtlich den Rest gegeben.
Auch Le Soir kann nur feststellen, dass der Absturz genauso schnell kam wie der Aufstieg. Zwischen 1995 und 2003 legte der Limburger Selfmademan einen glatten Durchmarsch hin. 2003 erzielte er 580.000 Vorzugsstimmen. Dann kam der Knick. Flandern ließ ihn fallen. In den letzten Jahren sorgte er allenfalls noch mit Geschichten aus seinem Privatleben für Schlagzeilen.
Und am Ende stand eine moralische Bankrott-Erklärung, klagt De Standaard an. Stevaert wollte sich offensichtlich einem Prozess entziehen. Das mutmaßliche Opfer muss jetzt noch ein zweites Trauma verarbeiten. Eine glänzende politische Karriere endet in allen Belangen in einer düsteren Misere.
"Gott ist tot"
Steve Stevaert war unnachahmlich, so porträtiert ihn demgegenüber Het Laatste Nieuws. Er wirkte gemächlich. Doch so langsam er redete, so schnell dachte er. Seine Volksnähe, seine Spontaneität, das war alles geplant. Er verstand es, die Dinge in einfachen Worten auf den Punkt zu bringen. Seine Partei hat seinen verfrühten Rückzug immer noch nicht verwunden; die flämischen Sozialisten waren auf der Suche nach einem "neuen Steve". Der alte Steve, der lebt leider nicht mehr.
"Gott ist tot", so fasst es Gazet Van Antwerpen zusammen. Das ist eine Anspielung auf eine Schlagzeile aus dem Jahr 2003. "Steve ist Gott", schrieb De Morgen seinerzeit. Und in der Tat: Für Stevaert schien es keine Grenzen mehr zu geben. Er war DER Star. Ein Jahr später musste er aber schon eine empfindliche Niederlage einstecken. Und seither ging es bergab. Niemand wusste wohl besser, mit den Medien umzugehen. Und er wusste auch, wie schnell aus Freunden Feinde werden können.
Stinkende Abflusskanäle
Einige Zeitungen hinterfragen denn auch die Rolle der Medien. Zumal in den letzten Tagen hat eine ganze Berufsgruppe mal eben die Grundregeln der journalistischen Deontologie vergessen, beklagt Het Belang Van Limburg. Nach der Meldung vom Verschwinden von Steve Stevaert sind alle Zeitungen, alle Fernsehsender, alle Radiostationen geschlossen und in Nullkommanichts zum Ufer des Albertkanals in Hasselt gepilgert. Wir wollten alle in der ersten Reihe stehen, um die Ermittler bei ihrer Suche nach Steve Stevaert zu zeigen. Welchen Mehrwert haben wir da wohl erwartet? Offensichtlich lassen sich die traditionellen Medien von den sozialen Netzwerken vor sich hertreiben. Dabei sollten wir, die Berufsjournalisten, doch eigentlich mit dem guten Beispiel vorangehen.
Hier sollten alle Beteiligten mal in sich gehen, mahnt auch De Morgen. Hätte nicht etwa die Justiz zunächst mal überlegen sollen, bevor sie die Presse darüber informiert, dass ein ehemaliger Spitzenpolitiker an den Strafgericht verwiesen wird? Stevaert musste sich vorkommen wie einer, der plötzlich als der flämische DSK durchgeht. Mit der Unschuldsvermutung ist es ja in den Medien so eine Sache. Wir suchen immer nach Persönlichkeiten, die uns an Shakespeares Dramen erinnern, wollen aber nicht verstehen, dass es sich hier nicht um Schauspieler, sondern um Menschen aus Fleisch und Blut handelt. In diesem Zusammenhang kann man nur feststellen, dass die sozialen Netzwerke sich gerade gestern von ihrer wohl miesesten Seite gezeigt haben: Es waren allenfalls noch stinkende Abflusskanäle, ohne Menschlichkeit, ohne Mitgefühl. Wir sollten uns dringend einmal die Frage stellen, was hier eigentlich passiert und ob das immer so richtig ist.
Bild: Rudi Van Beek/BELGA