"Die Justiz geht auf die Barrikaden", titelt La Libre Belgique. De Standaard drückt es im Innenteil etwas blumiger aus: "Toga-Protest gegen die totale Sonnenfinsternis bei der Justiz".
Anwälte und Magistrate haben gestern im Brüsseler Justizpalast eine vielbeachtete Protestaktion durchgeführt. Sie versammelten sich in der riesigen Eingangshalle des Brüsseler Justizpalastes. Das beeindruckende Bild ist auf der Titelseite von La Libre Belgique.
Der Protest richtet sich gegen geplante neue Sparmaßnahmen bei der Justiz. Magistrate wie Anwälte sind sich einig: Werden die Mittel weiter beschnitten, dann ist die Rechtsprechung in diesem Land definitiv in Gefahr.
Aufschrei im Elfenbeinturm
Eine solche Kundgebung ist wohl einmalig, notiert dazu Gazet Van Antwerpen. Gerade von Richtern wird immer behauptet, dass sie in einem Elfenbeinturm thronen. Es muss also schon viel passieren, um sie zum Demonstrieren zu bewegen.
Und dieser Aufschrei muss zur Kenntnis genommen werden, mahnt La Libre Belgique. Seit Jahren schon lässt die Politik die Justiz am langen Arm verhungern. Oft wird der Zynismus so weit getrieben, dass man zeitgleich mit einer neuen Beschneidung der Mittel auch noch zusätzliche Anstrengungen einfordert. Jetzt ist offensichtlich eine Grenze erreicht. Der Aufschrei ist einstimmig. Hintergrund ist hier nicht ein gleichwie gearteter korporatistischer Reflex. Für die Justizvertreter ist schlicht und einfach ein Pfeiler der Demokratie in Gefahr.
Gazet Van Antwerpen teilt diese Analyse nur bedingt. Ohne Zweifel stehen der Justiz nicht ausreichende Mittel zur Verfügung. Allerdings muss man auch zugeben, dass Magistrate wohl neben vielleicht noch den Ärzten zu den korporatistischsten Berufsgruppen gehören. Es ist quasi eine in sich geschlossene Kaste, die reflexartig allergisch reagiert auf jeglichen Versuch von externer Einflussnahme. Entsprechend wurde der neue Reformplan von Justizminister Koen Geens dann auch gleich mit Kanonen abgeknallt, da war die Tinte noch nicht trocken. Vielleicht hätte man das Ganze etwas sacken lassen sollen, wohlwissend, dass ein Koen Geens nicht in sechs Monaten das gerade biegen kann, was seit Jahrzehnten schief läuft.
Auch Het Belang Van Limburg plädiert dafür, dass man Koen Geens zumindest eine Chance gibt. Bislang ist sein Reformplan eigentlich nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Ideen und Denkanstößen. Über das Ziel darf allerdings kein Zweifel bestehen. Dieses Land braucht eine gesunde Justiz. Ein gerichtlicher Herzinfarkt würde die ganze Gesellschaft lähmen.
Schwierige Haushaltskontrolle
Der Zeitpunkt für die Protestaktion der Justizvertreter war wohl nicht zufällig gewählt. Gestern hat die Föderalregierung mit ihrer Haushaltskontrolle begonnen. Die erste Begutachtung der aktuellen Zahlen fand an einem geheimen Ort statt. Nach jüngsten Angaben müssen 1,2 Milliarden Euro aufgetrieben werden, um das Budget in der Spur zu halten.
"Wir wollen keine neuen Steuern", warnt aber gleich der N-VA-Vizepremier Jan Jambon in L'Echo. Die Nationalistenpartei bleibt also dabei: Sie will die erforderlichen Korrekturen auf der Ausgabeseite machen, sprich: Einsparungen vornehmen.
Das mache aus der N-VA aber keine "asoziale" Partei, unterstreichen zwei Mitglieder der Partei auf Seite eins von De Standaard. Das Blatt bringt ein Doppelinterview mit den beiden N-VA-Parlamentsvorsitzenden, nämlich dem Kammerpräsidenten Siegfried Bracke und dem Vorsitzenden des flämischen Parlaments Jan Peumans. Den häufig gehörten Vorwurf, ihre Partei kümmere sich nicht um die Interessen des Kleinen Mannes, den wollen sie nicht stehen lassen. Das sei doch Unsinn, die N-VA sei doch eine soziale Volkspartei.
Die Haushaltskontrolle wirft jedenfalls ihre Schatten voraus. Das wird eine schwierige Übung, glaubt Het Laatste Nieuws. Auf der einen Seite rührt sich immer mehr Protest, die Welle hat ja jetzt sogar die Justiz erfasst. Auf der anderen Seite müssen aber wieder 1,2 Milliarden gefunden werden. Ab jetzt geht das wohl nur noch, indem man Entweder-oder-Entscheidungen trifft.
Nach Ansicht von Beobachtern kann diese Haushaltskontrolle vielleicht sogar zu einem Stresstest für die Koalition werden. In diesem Zusammenhang macht der MR Haushaltsminister Hervé Jamar in De Morgen klar: "Wir sind der Mörtel der Regierung". Tatsächlich haben die frankophonen Liberalen in den letzten Wochen und Monaten häufig den Streit zwischen den flämischen Koalitionspartnern N-VA und CD&V schlichten müssen. Sowohl Hervé Jamar als auch der N-VA-Kollege Jan Jambon betonen aber, dass die mit Spannung erwartete Steuerreform erst nach der Haushaltskontrolle in Angriff genommen werden soll.
Tipps für die Steuerreform
Nichtsdestotrotz haben da einige Zeitungen aber schon mal Vorarbeit geleistet. Le Soir bringt auf Seite eins gleich eine ganze Reihe von "Denkanstößen". Das Blatt hat zusammen mit sechs namhaften Experten mögliche Eckpunkte einer Steuerreform ausgearbeitet. La Libre Belgique hat eine ähnliche Arbeit gemacht. La Libre zeigt im Zusammenhang mit dem angestrebten Tax-Shift die denkbaren Alternativen auf: Mehrwertsteuererhöhung, Kapitalertragsteuer, Umweltabgaben.
Eine große Reform ist möglich, resümiert jedenfalls Le Soir in seinem Leitartikel. Man muss es nur wollen. In jedem Fall sollte eine Steuerreform eine Vision haben. Es darf nicht das Resultat eines politischen Kuhhandels sein. Und man sollte auch an die Substanz gehen, sich jedenfalls nicht mit kleinen Retuschen begnügen. Ist das zu kompliziert? Dauert das zu lange? Wird das alle Bürger auf die Palme bringen? Die Antwort lautet drei Mal "Nein". Eine ehrgeizige Steuerreform inklusive Tax-Shift ist nicht nur wünschenswert, sie ist vor allem realistisch und machbar. Deswegen der Aufruf an die Politik: Wagen Sie es!
Bild: Nicolas Maeterlinck/BELGA