"Nationaler Streik, totale Blockade", titelt Le Soir. "Belgien am toten Punkt", so die Schlagzeile von La Libre Belgique. "Ein gelähmtes Land lebt in Zeitlupe", schreibt L'Avenir auf Seite eins.
Die Protestwelle erreicht heute ihren Höhepunkt. Nach den Streiks in den Provinzen an den vergangenen drei Montagen rufen die Gewerkschaften ihre Mitglieder heute landesweit und in allen Sektoren zum Ausstand auf. Mit diesem Generalstreik wollen die Gewerkschaften insbesondere gegen die Politik der Föderalregierung protestieren. Im Fokus stehen vor allem der Indexsprung und die Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Maximale Spannung
"Die Spannungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern sind an einem Höhepunkt", konstatiert La Libre Belgique. De Morgen fragt sich seinerseits auf Seite eins, wie es denn weitergehen soll: "Soll jetzt wirklich verhandelt werden?", so die Schlagzeile. Man kann jedenfalls nur feststellen, dass die Fronten mehr denn je verhärtet sind. Für Het Laatste Nieuws befinden sich Regierung und Gewerkschaften jetzt definitiv auf einen Konfrontationskurs. Daran ist auch N-VA-Chef Bart De Wever nicht ganz unschuldig. De Wever hatte am Sonntag im VRT-Fernsehen scharfe Kritik an den Gewerkschaften geübt. Das Land werde buchstäblich kaputt gestreikt. Im Übrigen seien die Proteste politisch motiviert. Die FGTB sei nichts anderes als ein Werkzeug der PS und wolle die Regierung stürzen, sagt De Wever. Auch die OpenVLD-Vorsitzende Gwendolyn Rutten warnte vor den "verheerenden Folgen für die Wirtschaft".
Das Getrommel der Parteichefs geht einem offensichtlich mächtig auf die Nerven: "Dann übernehmt doch selbst Verantwortung in der Regierung", poltert der CD&V-Vizepremier Kris Peeters auf Seite eins von De Standaard. Er jedenfalls brauche weder einen Schwiegervater, noch eine Schwiegermutter. Und er habe jetzt genug von den permanenten Zwischenrufen von der Seitenlinie.
Le Soir kann nur feststellen, dass der Soziale Dialog im Augenblick mindestens scheintot ist. Zwischen den Gewerkschaften einerseits sowie der Regierung und den Arbeitgebern anderseits geht im Moment nichts mehr. "Der Druck auf die Regierung ist maximal", konstatiert das Blatt. Allein eine Vermögensteuer kann die Gewerkschaften besänftigen.
Kapitalertragsteuer: Symbol der Fairness
Im Grunde geht es nur um Fairness, meint De Standaard in seinem Leitartikel. Sparmaßnahmen von dieser Größenordnung stoßen nur dann auf relative Akzeptanz, wenn man davon ausgehen kann, dass jeder seinen Beitrag leistet. Man darf sich nämlich nicht in die Tasche lügen: Eine Vermögensteuer wird nicht alle Probleme mit einem Mal lösen und wird auch nicht den Indexsprung rückgängig machen. Wie gesagt: Hier geht es lediglich ums Prinzip.
De Morgen schlägt in dieselbe Kerbe. Wenn die OpenVLD-Vorsitzende Gwendolyn Rutten eine Kapitalertragssteuer als bloßes Symbol abtut, dann weiß sie gar nicht, wie Recht sie hat. Niemand ist so naiv und glaubt, dass man allein mit einer Reichensteuer einen Haushalt saniert. Der Durchschnittsbelgier verlangt lediglich Ausgewogenheit. Im Grunde kann die Regierung doch froh sein, dass sich der Bürger mit einem angeblichen Symbol zufrieden geben würde.
Het Laatste Nieuws sieht das genau so: Eine Kapitalertragsteuer, das ist eine Frage der Ethik. Befeuert werden die Gewerkschaftsproteste durch die jüngsten Enthüllungen über die luxemburgischen Steuerschlupflöcher, von denen ja offensichtlich auch Colruyt Gebrauch gemacht hat. Dieses Land braucht einen Tax-Shift, eine Verlagerung der Steuerlast: weg von der Arbeit, hin zu Kapital- und Immobilieneinkünften. Es kann nicht sein, dass der Durchschnittsbürger für diejenigen die Zeche zahlt, die mithilfe von fiskaler Spitzentechnologie der Steuer entgehen. Die Regierung könnte damit mit einem Mal aus ihrem Umfragetief herauskommen. Stellt sich die Frage: Worauf wartet sie noch?
"Belgisches" Modell auf der Kippe?
Für einige Experten geht es bei diesem Konflikt aber um mehr. "Das belgische Sozialmodell steht am Scheideweg", zitiert etwa La Libre Belgique einige Politikwissenschaftler. Demnach geht ein Gespenst um in Belgien. Und dieses Gespenst heißt: Margaret Thatcher. Fakt ist, dass der vielgepriesene Soziale Dialog schon seit Jahren nicht mehr wirklich funktioniert. Bislang haben die Regierungen noch immer versucht, von außen Einfluss zu nehmen. Jetzt haben Experten das Gefühl, dass diese Regierung einen Schritt weitergehen will: Sie will neben den Gewerkschaften und den Arbeitgebern zum dritten Partner am Tisch werden. Die Sozialpartner haben also ein Interesse daran, den Sozialen Dialog wieder ans Laufen zu bekommen. Ansonsten könnte eben das passieren, was Großbritannien unter Margaret Thatcher widerfahren ist: Sie hat angeblich angestaubte Institutionen schlicht und einfach abgeschafft.
Hier geht es denn auch um die urbelgische Vorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, warnt La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Bart De Wever den Konflikt mit den Gewerkschaften noch weiter anheizt. Ein "belgisches" Modell kann ihm, dem Separatisten, ohnehin nur zuwider sein. Deswegen muss Premier Charles Michel das Heft jetzt schleunigst in die Hand nehmen, um eine dramatische Entgleisung zu verhindern.
Ein neues BHV?
Für De Morgen sind alle Beteiligten gerade dabei, ein neues unlösbares Problem zu schaffen. Sowohl die Regierung, als auch die Gewerkschaften, beschränken sich nur noch auf ideologisches Gebrüll. Und die Bevölkerung ist mehr denn je gespalten. Der Graben zwischen den Streikenden und den Arbeitswilligen wird mit jedem Aktionstag tiefer. Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Das sind im Grunde dieselben Zutaten wie in der unseligen BHV-Akte - mit dem einen Unterschied, dass den Menschen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung im Gegensatz zu Brüssel-Halle-Vilvoorde nicht egal ist.
Bild: Thierry Roge (belga)