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"Die Wut der Straße", titelt Le Soir. "120.000 x Nein gegen die Regierung", so die Schlagzeile von De Standaard und Het Nieuwsblad.
Ausnahmslos alle Zeitungen berichten in großer Aufmachung über die gestrige Großkundgebung in Brüssel. Die Gewerkschaften hatten zum Protest gegen die Politik der Regierung Michel aufgerufen. Im Fokus standen vor allem die Anhebung des Rentenalters und der geplante Indexsprung. Le Soir fasst den allgemeinen Tenor zusammen: "Warum seid Ihr so böse?", scheinen die Demonstranten die Regierung zu fragen.
"Das ist nicht zum Lachen"
Und es waren viele Demonstranten: 120.000 Teilnehmer. Gewerkschaftsproteste eines solchen Ausmaßes hat Brüssel seit 1986 nicht mehr gesehen, weiß Het Nieuwsblad. "Historische Kundgebung - historisch in puncto Größe aber auch in puncto Ausschreitungen", schreibt L'Echo.
Gegen Ende ist die Demo nämlich aus dem Ruder gelaufen. Einige Zeitungen drucken auf ihren Titelseiten beeindruckende Bilder ab, von vermummten Männern vor einer brennenden Kulisse. Het Belang van Limburg und Gazet van Antwerpen sprechen von einer "Schlacht".
Het Laatste Nieuws bringt auf Seite eins das Foto von vermummten Hooligans, die sich stolz vor einem brennenden Auto fotografieren lassen. "Das ist nicht zum Lachen", so die anklagende Schlagzeile. Das Blatt zieht eine ernüchternde Bilanz: 120.000 Teilnehmer. 25 Autos demoliert – sechs davon abgefackelt. 60 Verletzte, darunter 20 Polizisten. Fünf Wasserwerfer. 30 Festnahmen.
"Unannehmbar", wettert denn auch La Dernière Heure auf Seite eins. Die Gewerkschaften sollten die betroffenen Bürger entschädigen, fordert das Blatt in seinem Kommentar. Die Bürger, die zum Teil tatenlos zusehen mussten, wie ihr Auto in Flammen aufging, hätten wohl nie gedacht, dass sie selbst zum Opfer werden würden.
Wenn die Gewerkschaften schon ihren Mitgliedern eine Prämie zahlen, damit sie demonstrieren gehen, dann sollten sie auch für den Schaden aufkommen, den ihre Mitstreiter anrichten, so La Dernière Heure.
Kundgebung in den Schatten gestellt
Es gab 119.850 echte Demonstranten und 150 Hooligans, bilanziert Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Die Ausschreitungen werfen einen Schatten auf die ansonsten friedliche Kundgebung. Schade für die 119.850 anderen. Zwar haben sich die Gewerkschaftsverantwortlichen von den Unruhestiftern distanziert, das reicht aber nicht. Sie sollten diese faulen Äpfel rauswerfen, fordert Het Nieuwsblad.
"Mistkerle!", tobt seinerseits Het Laatste Nieuws. Wir haben gestern unfassbare Szenen erleben müssen: Anarchisten, die mit Pflastersteinen werfen und jubeln, wenn sie treffen. Hooligans, die Selfies machen vor einem brennenden Polizeimotorrad, stolz wie Oskar, wie ein Jäger mit seiner Trophäe. Eigentlich ungerecht, dass eben diese "Mistkerle" am Ende alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Dabei vergisst man doch glatt, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung gestern ganz normal zur Arbeit gegangen ist.
"Regierung kann Signal nicht ignorieren"
120.000 Teilnehmer, das ist nichtsdestotrotz eine Hausnummer, bemerkt aber die ansonsten nicht unbedingt gewerkschaftsfreundliche Zeitung Gazet van Antwerpen. Die Gewerkschaften haben bewiesen, dass sie immer noch große Menschenmassen mobilisieren können. Und das darf die Regierung nicht als Kinkerlitzchen abtun.
Offensichtlich gibt es tatsächlich in der Bevölkerung eine breite Ablehnung gegen den Kurs der Regierung. Und man hörte bei der Demo auch viel Niederländisch. Regierung und Gewerkschaften werden sich zusammenraufen müssen. Denn nicht vergessen: Der soziale Frieden ist für die Wirtschaft mindestens genauso wichtig wie eine Senkung der Lohnnebenkosten.
"Der Dialog als Antwort auf die Kundgebung", titelt denn auch La Libre Belgique. Zum ersten Mal hat die neue Regierung die Gewerkschaften offiziell zu einem Meinungsaustausch empfangen. "Es war aber allenfalls ein erstes Flüstern", urteilt L'Avenir. Ein wirklicher Dialog sieht anders aus. Het Nieuwsblad und De Standaard glauben aber zu wissen, dass die Regierung nicht wirklich bereit ist, einzulenken.
Politisch gesehen ist es unrealistisch, dass die Regierung Maßnahmen wie den Indexsprung oder die Erhöhung des Rentenalters zurück nimmt, glaubt De Standaard in seinem Leitartikel. Das wäre auch ungesund, wenn eine demokratisch legitimierte Entscheidung auf Druck der Straße gekippt würde. Die Regierung kann aber ihre moralische Legitimität aufpolieren, indem sie soziale Korrekturen vornimmt.
"Soziale Korrekturen!"
Ähnlich sieht das Le Soir. Die Regierung wäre gut beraten, ihr Koalitionsabkommen nicht eiskalt und ohne Rücksicht auf Widerstände durchzuboxen. Das hätte nämlich nur einen Dauerkrieg mit den Gewerkschaften zur Folge – sozialen Stillstand. Einige Forderungen der Gewerkschaften sind nämlich eigentlich allgemein nachvollziehbar; die Maßnahmen der Regierung könnten mit Sicherheit ausgewogener sein.
De Morgen schlägt in eben diese Kerbe. Es gibt offensichtlich eine "Kaste der Unantastbaren". Es gibt Leute, die von all diesen Sparmaßnahmen und Einschnitten nichts bemerken. Und das sind oft genug diejenigen, die die Finanz- und Wirtschaftskrise verursacht haben. Und für viele Menschen ist klar: Wenn wir schon die Zukunft unserer Kinder sichern sollen, dann nur, wenn auch die Reichen mitmachen.
LuxLeaks gießt Öl ins soziale Feuer
De Morgen – wie auch andere Zeitungen – nimmt damit auch Bezug auf den sogenannten LuxLeaks-Skandal. Grob zusammengefasst: Luxemburg hat es Großunternehmen und reichen Privatleuten ermöglicht, quasi verschwindend geringe Steuern zu zahlen. Darunter sind offenbar auch 26 der größten Einkommen in Belgien.
Das Ganze ist offensichtlich auch noch legal, kritisiert La Libre Belgique. Spezialisierte Anwaltskanzleien suchen augenscheinlich immer wieder nach neuen Möglichkeiten, um die auf belgischem Boden generierten Mehrwerte nicht in Belgien zu versteuern.
Vor diesem Hintergrund ist es fast unmöglich, soziale Einschnitte und Sparmaßnahmen im Kultursektor zu rechtfertigen, wenn eben auf der anderen Seite Milliardensummen ins Ausland verschwinden.
L'Echo stellt sich seinerseits die Frage, wie sich der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in dieser Sache positionieren wird. Die besagte LuxLeaks-Geschichte stammt nämlich aus der Zeit, als Juncker Premier beziehungsweise Finanzminister des Großherzogtums war.
Wie auch schon im Zusammenhang mit dem Geheimdienstskandal in Luxemburg scheint Juncker auch jetzt wieder vorgeben zu wollen, von alledem nichts gewusst zu haben. Jetzt wird sich die Frage stellen: Ist Juncker wirklich Präsident der EU-Kommission oder doch der ehemalige luxemburgische Premier?
rop - Bild: John Thys (afp)