"Chaotischer Start in der Kammer für Charles Michel und seine Schwedische Koalition", titelt L'Echo. "C'est quoi ça?!", schreibt die flämische Zeitung De Standaard auf Französisch auf Seite eins, "Was soll das denn jetzt?"
Im Parlament haben sich gestern Mehrheit und Opposition einen heftigen Schlagabtausch geliefert. Die Folge war, dass der neue Premierminister Charles Michel zunächst nicht die Gelegenheit bekam, seine Regierungserklärung zu verlesen. La Libre Belgique spricht von einem "beispiellosen Start für eine neue Regierung"; De Standaard fühlt sich an einen "Kindergarten erinnert"; Le Soir beklagt ein "trauriges Spektakel".
Bracke überfordert Michel standhaft
Viele Zeitungen machen dafür unter anderem den neuen N-VA-Kammerpräsidenten Siegfried Bracke mitverantwortlich. "Bracke fliegt in der Kammer durch die Ecken", frotzelt etwa Het Laatste Nieuws; "Bracke war überfordert", notiert L'Avenir. "Diese Feuertaufe sollte der frischgebackene Kammerpräsident schnellstens vergessen", meint Het Nieuwsblad.
Einige flämische Zeitungen heben demgegenüber lobend hervor, dass Charles Michel sich nicht habe einschüchtern lassen. "Buhrufe, Hohngelächter, wildes Gezeter, aber Michel hält stand", notiert etwa De Morgen. Het Laatste Nieuws hebt in seinem Leitartikel hervor, dass Charles Michel eben kein Mann der Polemik ist. Der neue Premier artikuliert sich nicht über "tödliche Oneliner", gebraucht also keine plakativen Parolen. Und auch angesichts beißender Kritik wie gestern im Parlament neigt er nicht zu giftigen Gegenangriffen.
Michel muss handeln
Angesichts der Tumulte im Parlament stehen sich zwei Lesarten gegenüber: "Die PS regt sich künstlich auf", so die Schlagzeile von La Dernière Heure. L'Avenir titelt demgegenüber: "Die N-VA setzt das Parlament in Brand".
Hintergrund war die Polemik um die Aussagen beziehungsweise den Umgang von zwei N-VA-Kabinettsmitgliedern. Der neue Innenminister Jan Jambon relativierte zunächst in einem Interview die Kollaboration im Zweiten Weltkrieg. Gestern kamen dann Fotos ans Licht von einer Geburtstagsfeier am Wochenende, auf denen der neue Asylstaatssekretär, Theo Francken zu sehen ist, der einem verurteilten Kollaborateur die Reverenz erweist.
Die Opposition, allen voran die frankophonen Sozialisten PS forderten also zunächst eine Klarstellung durch den Premierminister. Als der sich weigerte, schoss dann die Opposition aus allen Rohren.
Warum in Gottesnamen hat Michel nicht am Rednerpult klar Stellung bezogen, fragt sich Le Soir in seinem Leitartikel. Warum hat er sich nicht im Namen der gesamten Regierung zu den Grundwerten bekannt? Stattdessen hat der neue Regierungschef gleich seine eigene Position geschwächt. Er hätte sich selbst und uns allen jedenfalls dieses schreckliche Spektakel, diese höllischen Bilder ersparen können.
Auch La Libre Belgique ruft den neuen Premierminister auf, jetzt schnellstens das Heft in die Hand zu nehmen. Erstens: Michel muss den N- VA-Ministern die Grenzen aufzeigen und zweitens: Er muss dafür sorgen, dass allein das Regierungsprogramm im Vordergrund steht. Und um das zu erreichen, muss er das Jackett des Premiers anlegen und sich über die Mêlée stellen.
Amateurhafte N-VA?
Andere Leitartikler sehen den Handlungsbedarf hingegen jetzt vor allem bei der N-VA. Bart De Wever hat doch eigentlich bekommen, was er wollte, konstatiert Het Belang Van Limburg. Jetzt muss er aber dafür sorgen, dass sich seine Minister, Staatssekretäre und Parlamentarier angemessen verhalten, das heißt: Nichts tun oder sagen, was möglicherweise für Polemik sorgen könnte.
L'Avenir ist noch deutlicher. Die N-VA hat im Wahlkampf vor allem die Veränderungen beschworen. Die Partei wollte alles besser machen. Im Augenblick glänzt die N-VA aber allenfalls durch amateurhaftes Verhalten. Ihre Verantwortungssträger reihen ein Fettnäpfchen ans andere. Ihnen muss klar sein: Jetzt sind sie da, wo sie hin wollten; sie müssen aber noch beweisen, dass sie dieser Verantwortung gerecht werden können.
Nur der Anfang?
Einigen Blättern schwant da aber nichts Gutes. "Wie soll diese Equipe durchhalten?", fragt sich Le Soir auf Seite eins. "Warum sich Michel Sorgen machen muss", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad. Het Nieuwsblad ist nämlich davon überzeugt, dass die Affären Jambon und Francken nicht die letzten ihrer Art sein werden. Die Partei hat nämlich nicht im Entferntesten die Absicht, künftig vorsichtiger zu sein. "Wir haben keine Angst vor unserem eigenen Schatten", sagt ein N-VA-Sprecher in der Zeitung.
Alles geht vorbei außer die Vergangenheit, zitiert Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel einen Historiker. Im Klartext: Insbesondere in Flandern ist die Kriegsvergangenheit nicht aufgearbeitet worden. Und die N-VA wäre gut beraten, diese Diskussion nicht ausgerechnet jetzt führen zu wollen. Damit schadet sie nämlich nur dem Premierminister, den sie angeblich unterstützt.
Die N-VA ist die Achillesferse von Charles Michel, meint auch Gazet Van Antwerpen. Natürlich kann man argumentieren, dass die Opposition sich nur auf die beiden N-VA-Minister eingeschossen hat, weil sie inhaltlich nichts zu sagen hatte. Das ändert aber nichts daran, dass sich die MR der geballten Feuerkraft der Opposition aussetzen musste. Die N-VA ist augenscheinlich der Stolperstein, den die Linksparteien Charles Michel in den Weg stellen wollen.
Klar ist das zwielichtige Verhältnis der N-VA zur Kollaboration bekannt, bemerkt L'Echo. Das allerdings hat die flämischen Parteien nicht dazu bewogen, eine Bannmeile um die Partei zu ziehen. Dass eigentlich Seltsame ist, dass Jambon und Francken gleich Farbe bekennen, noch bevor die Tinte unter dem Koalitionsabkommen trocken war. Jetzt bedarf es einer klaren Maßregelung von Seiten der N-VA und des Premiers mit der Botschaft: Ein solches Verhalten ist absolut inakzeptabel.
Generalstreik?
Kaum beachtet wird dabei der Inhalt der Regierungserklärung von Premierminister Charles Michel. Im Grunde war der ja auch schon weitgehend bekannt. Michel hatte in seiner Rede aber noch einmal ausdrücklich den Sozialpartnern und insbesondere den Gewerkschaften die Hand gereicht. "Diese Geste ist scheinheilig", reagieren aber die Gewerkschaften in De Morgen. Sie glauben demnach nicht daran, dass die Pille für Otto-Norma-Verbraucher noch erträglicher werden kann.
Laut La Libre Belgique haben die Gewerkschaften im Übrigen schon ihren Gegenschlag geplant. Demnach soll wahrscheinlich am 7. November eine nationale Großkundgebung in Brüssel stattfinden. Im Anschluss sollen reihum in den Provinzen des Landes Arbeitsniederlegungen erfolgen. Für den 15. Dezember planen die Gewerkschaften laut La Libre Belgique einen Generalstreik.
Foto: Nicolas Maeterlinck (belga)