Die Zahl "100" prangt heute auf der Titelseite von La Libre Belgique. In genau 100 Tagen wird gewählt. Und es sind bekanntlich wichtige Wahlen: Alle Parlamente des Landes mit Ausnahme der Provinzialräte werden neu zusammengestellt.
Für Aufsehen sorgt in diesem Zusammenhang eine neue Umfrage, die die Zeitung Le Soir heute veröffentlicht. Die Schlagzeile auf Seite eins bringt die wichtigste Schlussfolgerung auf den Punkt: "Die N-VA allein auf weiter Flur". Das gilt zunächst für das eigentliche Ergebnis der Umfrage. In Flandern liegt die Partei von Bart De Wever einsam an der Spitze: Mit 32 Prozent hat sie rund 14 Punkte Vorsprung vor der zweitplatzierten CD&V. Zugleich kann die N-VA ihren Vorsprung zur frankophonen PS ausbauen. In der Wallonie müssen die Sozialisten nämlich deutlich Federn lassen. Laut der Umfrage landet die PS noch bei 28 Prozent; das sind fast 10 Punkte weniger als bei der Wahl 2010.
"Allein auf weiter Flur"
"Allein auf weiter Flur" ist die N-VA aber auch, weil niemand mit ihr regieren will, wie unter anderem De Morgen auf seiner Titelseite hervorhebt. Aus besagter Umfrage geht hervor, dass die Wähler der Konkurrenzparteien mehr oder weniger deutlich eine Koalition mit der N-VA ablehnen.
Es ist zwar nur eine Umfrage, bemerkt dazu Het Laatste Nieuws. Nichtsdestotrotz geben die Ergebnisse zu denken. Es mag jedenfalls so aussehen, als könnte es nach der Wahl wieder schwierig werden, eine Koalition zu bilden. Selbst bei der CD&V ist man alles andere als wild darauf, sich fünf Jahre lang neben Bart De Wever oder einen seiner Leutnants zu setzen. Auch Kris Peeters dürfte wenig Lust verspüren, quasi den Haushälter von De Wever zu geben. Nicht auszuschließen ist also, dass am Ende also eine Koalition geschmiedet wird, die auf flämischer Seite keine Mehrheit hat.
Auch De Morgen mutmaßt, dass für die N-VA auf den Champagner ein ausgewachsener Kater folgen wird. Dass die N-VA am 25. Mai als der große Sieger aus der Wahl hervorgehen wird, davon kann man wohl ausgehen. Die Frage ist nur, ob die Partei von Bart De Wever dazu imstande ist, ihre Forderung nach einer neuen Staatsreform zurückzustellen. Wenn nicht, dann steht sie sehr schnell ziemlich alleine da.
De Wevers Gesundheitsprobleme - "Kein Kinkerlitzchen"
Apropos Bart De Wever. "Veerle De Wever muss schon wieder zu Besuch auf die Intensivstation", schreibt Het Laatste Nieuws auf Seite eins. Veerle, das ist die Frau des N-VA-Chefs. De Wever musste nämlich Anfang der Woche wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er kämpft mit einer Infektion, die die Lungen, die Leber und das Herz befallen hat. "Er muss sich jetzt unbedingt erholen", zitiert Het Belang van Limburg einen Mediziner. Es ist ja schon das zweite Mal innerhalb von drei Monaten, dass De Wever auf der Intensivstation behandelt werden muss. Die N-VA-Spitze relativiert indes die Gesundheitsprobleme des Parteichefs.
Hier geht es aber in erster Linie um eine Kommunikationsstrategie, analysiert Gazet van Antwerpen. Man fühlt sich an den legendären Informationsminister von Saddam Hussein erinnert, der noch über einen triumphalen Sieg über die USA schwadronierte, als ihm amerikanische Kugeln schon um die Ohren flogen. Eine Infektion an Herz und Lungen, das klingt jedenfalls nicht nach einem Kinkerlitzchen.
Euthanasie: Imageschaden für Belgien
"Wir müssen der ganzen Welt erklären, warum wir das Euthanasie-Gesetz gutheißen", zitiert Het Nieuwsblad heute die OpenVld-Vorsitzende Gwendolyn Rutten. In der Tat: Die Ausweitung der aktiven Sterbehilfe auf Minderjährige bewegt die ganze Welt. Und die ganze Aufregung ist für Belgien der größte Imageschaden seit der Dutroux-Geschichte, sagt ein Uni-Professor in der Zeitung.
Bei all den Unsäglichkeiten, die da in den letzten Tagen über Belgien abgelassen wurden, verschlägt es einem erst mal die Sprache, meint Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Da wurde sogar auf Leopold II. verwiesen mit der Bemerkung, dass Mitgefühl noch nie eine belgische Eigenheit gewesen sei. Jetzt mal langsam! Mit Verlaub, aber diese Vergleiche sind beleidigend. Niemand wird zu irgendetwas gezwungen. Und in Belgien wird auch nicht Kindermord legalisiert. Euthanasie für Minderjährige zu erlauben, das ist eben ein Beweis für Mitgefühl.
De Standaard sieht das ähnlich. Es hat nichts mit moralischer Überlegenheit zu tun, eine Debatte über das Lebensende nicht zu führen. Als werde die Menschlichkeit nur garantiert, wenn man die Illusion aufrechterhält, dass es in solchen Fragen keine moralischen oder ethischen Entscheidungen gibt.
Theatralischer Abgang
Die frankophone Presse beschäftigt sich mit dem spektakulären Abgang der cdH-Politikerin Anne Delvaux. Die EU-Parlamentarierin rechnete gestern mit ihrer Partei ab. Der Grund: Bei der nächsten Europawahl wird sie nicht die Spitzenkandidatin der cdH sein.
Le Soir spricht in diesem Zusammenhang von einem "humanistischen Sandkasten". Zwar zeigt sich die Politik in dieser Geschichte einmal mehr von ihrer zynischsten Seite. Dennoch kann man sich darüber wundern, dass das für eine Frau wie Anne Delvaux offensichtlich Neuland ist. Sie, die sie seit sieben Jahren für die cdH kandidiert, müsste doch längst wissen, wie das Geschäft funktioniert. Wundern kann man sich aber auch über die Haltung von cdH-Präsident Benoît Lutgen, der offensichtlich zu lange gezögert hat und damit eine Mitschuld an der peinlichen Geschichte trägt.
Auch L'Avenir kann eigentlich nur mit dem Kopf schütteln. Anne Delvaux hat einen geradezu theatralischen Abgang hingelegt. Das ist irgendwie in der Natur der Sache; schließlich war sie in ihrem vorherigen Leben ein Fernsehgesicht. Als TV-Journalistin hätte sie allerdings auch wissen können, dass in der Politik mit harten Bandagen gekämpft wird. Es gibt jedenfalls keinen Gewinner: weder die enttäuschte Kandidatin, die sich in ihrer Ehre verletzt fühlt, noch die Partei und erst recht nicht die Politik.
Archivbild: Nicolas Maeterlinck (belga)