„Tränen und Fragen“, titelt heute die frankophone Tageszeitung Vers l'Avenir. De Standaard meint in ähnlichem Wortlaut auf Seite 1: „Trauer und Ratlosigkeit“. La Libre Belgique spricht auf seiner Titelseite vom „Rätsel Kim De Gelder“. Das ganze Land ist fassungslos angesichts des brutalen Amoklaufs von Sint Gillis. Der mutmaßliche Täter, der 20-jährige Kim De Gelder, will nicht mit der Justiz zusammenarbeiten. Er schweigt.
In der Ermangelung jeglicher Aussagen im Hinblick auf das Motiv der Tat haben viele Zeitungen in der Vergangenheit des Amokläufers gestöbert. Er war der ruhigste Junge in der Klasse, berichtet etwa Het Laatste Nieuws unter Berufung auf frühere Schulkameraden. Kim De Gelder war ein Eigenbrödler, er saß immer allein im Schulbus, er hatte so gut wie keine Freunde. Dennoch wuchs er in einem vergleichsweise warmen Nest auf.
La Derniere Heure hat eine frühere Schulfreundin des jungen Mannes ausfindig gemacht. Sie beschreibt Kim De Gelder als einen unreifen, schüchternen Jungen. Er und drei seiner früheren Kumpel seien in der Klasse als „die Verliererclique“ gestempelt worden. Bekannt sei seine Vorliebe für Horrorfilme gewesen. Außerdem war er ein Fan von brutalen Computerspielen.
Fast alle Zeitungen sehen in der Bluttat und dem Verhalten des Täters eindeutige Parallelen zu der Joker-Figur im letzten Batman Film „The dark knight“.
Het Belang van Limburg und Gazet van Antwerpen zeigen die Übereinstimmungen auf: Der Amoklauf fand genau ein Jahr und ein Tag nach dem Tod des Joker-Darstellers Heath Ledger statt. Der einzige Satz, den Kim De Gelder in der Kinderkrippe ausgesprochen hat, war ein Zitat aus dem Film. Und besonders auffällig: Der Name Gelder ist ein Anagramm von Ledger, bestehend aus denselben Buchstaben nur in einer anderen Reihenfolge.
Doch sagt das immer noch wenig über das Motiv des Amokläufers aus. Und in der Mangelung genauerer Informationen, haben wir nur eine Möglichkeit: Wir versuchen gemeinsam das Drama zu verarbeiten. Genau das haben gestern 7.000 bis 8.000 Menschen getan, als sie sich in Sint Gillis spontan zu einem Trauermarsch einfanden, schreibt De Morgen in seinem Kommentar. Um unsere Wut, unsere Fassungslosigkeit und unsere Trauer zu kanalisieren, suchen wir Zusammengehörigkeitsgefühl und soziale Rituale. Bei allem Individualismus zeigt das, dass wir soziale Wesen sind. Leider brauchen wir derartige Dramen, um das zu begreifen.
La Libre Belgique ruft bei allen Emotionen, die der Amoklauf hervorruft, zur Besonnenheit auf. Hier ist kein Platz für Hass oder Rachegefühle. Menschen, die etwa für die Wiedereinführung der Todesstrafe plädieren, sind geblendet. Derartige Maßnahmen wären für den Täter zu viel der Ehre.
Dennoch hat Kim De Gelder kein Recht auf eine zweite Chance, meint Het Laatste Nieuws. Wer so etwas tut, darf nicht mehr auf freien Fuß gesetzt werden. Das Erschreckende: Nach dem derzeitigen Stand der Dinge ist Kim De Gelder ein unbeschriebenes Blatt. Er stammt aus einer unauffälligen Familie, es gibt keine Spur von geistiger Verwahrlosung. Eigentlich hat er das Profil von Millionen anderen Flamen. Was diesen vermeintlichen Allerwelts-Jugendlichen zu seiner Tat gebracht hat, wissen wird nicht.
In diesem Zusammenhang warnt die Brüsseler Tageszeitung Le Soir jedoch davor, das Ermittlungsgeheimnis all zu wörtlich zu nehmen. Wenn die Justiz sich in den Mantel des Schweigens hüllt, dann muss man sich nicht wundern, wenn die abenteuerlichsten Gerüchte ins Kraut schießen. Plötzlich war der Täter schon Mitglied der rechtsextremen Organisation „Blood and Honour“. Andere behaupteten, mit dem Schweigen der Justiz solle nur eine bekannte Familie geschützt werden. Im vorliegenden Fall ist die Achtung des Ermittlungsgeheimnisses kontraproduktiv und nützt weder dem Täter noch den Opfern.
Das Schweigen der Justiz erklärt sich aber zum Teil auch durch das Verhalten des Täters. Doch selbst wenn er redet, ist es wohl unwahrscheinlich, dass uns seine Aussagen helfen werden, das Drama zu verarbeiten, bemerkt De Standaard. Uns bleibt nur übrig, die Lehren aus der Tragödie zu ziehen. Wir leben schließlich im Hier und Jetzt, die Vergangenheit kann leider nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Doch wie sollen die Lehren aus der Tat aussehen? Eins ist sicher, meint dazu Gazet van Antwerpen, eine Gesellschaft kann sich nicht gegen alle denkbaren und undenkbaren Risiken schützen. Müssen denn am Ende vor jedem öffentlichen Gebäude zwei Polizisten inklusive Metalldetektoren postiert werden? Das kommt nicht in Frage!
Het Nieuwsblad sieht das ähnlich. Amokläufe wie der von Sint Gillis oder auch der von Antwerpen vor knapp drei Jahren können wieder passieren. Jedenfalls werden selbst die drakonischsten Sicherheitsmaßnahmen das nicht verhindern. Wir müssen versuchen, keine Angst zu haben. Denn Angst ist ein schlechter Lehrmeister. Ein Leben, das von Angst geprägt ist, ist kein Leben mehr.