Menschenrechtsgerichtshof kritisiert belgische Schwurgerichte
„Die Schwurgerichte sitzen tief in der Patsche“, titelt Het Laatste Nieuws. De Morgen meint auf Seite 1: „Unter den Schwurgerichten wurde eine Bombe platziert“. Hintergrund ist ein Urteil des europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Das Gericht gab einer Klage von Richard Taxquet statt. Taxquet war vor vier Jahren vom Lütticher Schwurgericht für schuldig befunden worden, den Mord an dem sozialistischen Staatsminister André Cools in Auftrag gegeben zu haben. Für das Straßburger Gericht wurden in dem Verfahren die Menschenrechte missachtet. Das Urteil hat bereits dazu geführt, dass ein Schwurgerichtsprozess in Antwerpen bis auf weiteres ausgesetzt wurde.
Insbesondere empfiehlt der Menschenrechtsgerichtshof, dass die Geschworenen in Zukunft ihren Schuldspruch begründen müssen. Die derzeitige Prozedur sieht lediglich vor, dass die Jury die Schuldfrage mit Ja oder Nein beantwortet. Belgien wird nun wärmstens empfohlen, die Assisenprozedur an die heutige Zeit anzupassen, bemerkt dazu Het Laatste Nieuws. In einer modernen Demokratie werden Transparente und nachvollziehbare Urteile erwartet. Dies im Sinne sowohl der Opfer als auch der Angeklagten.
Wie diese Reform allerdings aussehen soll, das ist eine andere Geschichte, fügt Gazet van Antwerpen hinzu. Man kann schwerlich von Laien erwarten, dass sie ihr Urteil juristisch und technisch wasserdicht begründen. Eine mögliche Lösung wäre, dass die Geschworenen bei ihrer Urteilsfindung durch Magistrate begleitet werden. Allerdings wird damit das Wesen von Schwurgerichtsprozessen angetastet, da hier eben nicht notwendigerweise nach den Buchstaben des Gesetzes entschieden wird.
Es gibt mit Sicherheit ebenso viele Argumente, die für Assisenprozesse sprechen wie dagegen, notiert dazu De Morgen. Man darf durchaus die Frage stellen, ob es wirklich gerechtfertigt ist, dass die schwersten aller Straftaten allein durch Laien beurteilt werden und nicht durch Berufsrichter.
Das Ganze schreit in jedem Fall nach einer Grundsatzdebatte: Auf der einen Seite leben wir in einer Welt in der es ständig neue Formen von Kriminalität gibt, für die auf der anderen Seite eine Justiz zuständig ist, die seit Napoleon sozusagen unverändert geblieben ist. Eine tief greifende Reform der Justiz, das ist eine wirkliche Herausforderung für den neuen Justizminister Stefaan De Clerck.
Im Endeffekt muss De Clerck da aktiv werden, wo seine Vorgänger über Jahre hinweg untätig geblieben sind, bedauert De Standaard. Die belgischen Schwurgerichtsverfahren sind schon seit mindestens zehn Jahren im Fadenkreuz internationaler Gremien. Das Problem in diesem Land ist der extrem langsame Prozess der politischen Entscheidungsfindung. Schnelle Beschlüsse gibt es nur dann, wenn es brennt. Jüngstes Beispiel: Der folgenschwere Prozedurfehler in Gent, der zur Freilassung einer Reihe von Schwerverbrechern geführt hat. Auch das Problem war längst bekannt, wurde aber erst angepackt, als es schon zu spät war.
Wirbel um Keulen
In was für einem Land leben wir eigentlich?, fragt sich denn auch Het Belang van Limburg. Erst der Prozedurfehler von Gent, jetzt das Urteil gegen die belgische Schwurgerichtsprozedur. Doch lebt die Politik diesen eher unverbindlichen Umgang mit dem Gesetz sozusagen vor. Auf der einen Seite bestraft der zuständige flämische Minister Marino Keulen drei frankophone Bürgermeister, weil diese offensichtlich gegen das Gesetz verstoßen haben. Auf der anderen Seite lässt eben dieser Marino Keulen andere Bürgermeister unbehelligt, die im Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde das Abhalten von Wahlen boykottieren. Hier wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Die Botschaft lautet: Warum sollen die Bürger dieses Landes noch die Gesetze befolgen, wenn selbst der Staat es nicht tut?
Auch Le Soir kritisiert in scharfen Worten die Haltung des flämischen Innenministers. Marino Keulen scheint zu vergessen, dass die erste Aufgabe eines Ministers in einer Demokratie darin besteht, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen. Die drei frankophonen Bürgermeister werden aus vielleicht sogar nachvollziehbaren Gründen bestraft. Nur kann der Minister dann nicht bei einem vergleichbaren Vergehen von flämischen Bürgermeistern beide Augen zudrücken. Bleibt Keulen dabei, dann ist er eines Ministeramtes unwürdig.
Anne-Marie Lizin im Kreuzfeuer
Einige frankophonen Zeitungen befassen sich mit den jüngsten Vorwürfen gegen die PS-Bürgermeisterin von Huy, Anne-Marie Lizin. Lizin soll in ihrer Eigenschaft als Verwaltungsratspräsidentin des örtlichen Krankenhauses ungerechtfertigte Ausgaben zu Lasten der Klinik getätigt haben.
In der Zeitung Vers l'Avenir gibt sich der wallonische Innenminister und Lizin-Parteifreund, Philippe Courard, empört. Courard lässt bereits prüfen, ob Sanktionen gegen Lizin möglich sind.
Das könnte sich als schwierig erweisen, beklagt La Libre Belgique in ihrem Kommentar. Offensichtlich sind die Taten verjährt und ein Disziplinarverfahren ausgeschlossen. Doch diesmal kommt Lizin wohl nicht ungeschoren davon. Die PS hat schon ein parteiinternes Untersuchungsverfahren gegen Lizin eingeleitet. Da kann man Anne-Marie Lizin - die sich derzeit noch von einer Bypassoperation erholt - nur gute Besserung wünschen, damit diese Seite schnell umgeblättert werden kann.