"1962-2012: Das Ende von Ford Genk", titeln fast gleichlautend De Morgen und Gazet van Antwerpen. "Totalschaden mit 10.000 Opfern", so die Schlagzeile von Le Soir. "10.000 Jobs vernichtet innerhalb von zwei Minuten", schreibt Het Laatste Nieuws in Blockbuchstaben. "Das schlimmste Sozialdrama seit Ende der Sabena", notiert La Dernière Heure.
Die Ford-Werke von Genk werden Ende nächsten Jahres geschlossen. Insgesamt stehen damit bis zu 10.000 Menschen auf der Straße. Fast alle Zeitungen bringen lange Fotostrecken, die geschockte Gesichter zeigen, Menschen, die mit einem Mal alles verloren haben. "Ford Genk, 9.05 Uhr", übertitelt etwa Het Nieuwsblad eine Fotokollage, die Bände spricht.
"10.000 Mal belogen"
Dabei schien die Zukunft des Werks eigentlich gesichert. Noch vor fünf Wochen hatte die Ford-Europadirektion den Gewerkschaften gegenüber versichert, dass der neue Mondeo wohl in Genk gebaut werden sollte. Dieses Versprechen hat sich jetzt offensichtlich in Luft aufgelöst. "10.000 Mal betrogen", titelt denn auch Het Nieuwsblad.
Ford-Europachef Stephen Odell will von einer derartigen Zusage aber nichts wissen. Er habe nie Garantien gegeben, sagt er unter anderem in De Standaard und Het Belang van Limburg. Das Limburger Blatt ist besonders erschüttert über die angekündigte Schließung des Brotkorbs der Provinz. Die Titelseite von Het Belang van Limburg ist weiß; zu lesen nur ein Satz: "Ein Geschäft, das nur Geld einbringt, ist ein schlechtes Geschäft." Zitat von Henry Ford.
Entsprechend wütend der Leitartikel der limburgischen Regionalzeitung: Der Provinz Limburg wird mit der Schließung von Ford nach dem Ende der Kohleminen zum zweiten Mal das wirtschaftliche Rückgrat gebrochen. Die Mitarbeiter von Ford Genk wurden belogen und betrogen. Die Europadirektion begeht Wortbruch, hat aber noch nicht einmal den Mut, den Mitarbeitern die schlechte Neuigkeit persönlich ins Gesicht zu sagen. Und das, nachdem vor zwei Jahren die Ford-Mitarbeiter in Genk sogar auf 12,5 Prozent Lohn verzichtet haben.
Das kann man nicht so stehen lassen, meint denn auch Gazet van Antwerpen. Die Gewerkschaften und die Regierungen dieses Landes sollten vor Gericht ziehen. Man sollte der Ford-Direktion das Leben zur Hölle machen. Wortbruch darf nicht ungesühnt bleiben. Die Dutzende Millionen Euro, die die öffentliche Hand in das Werk gesteckt hat, müssen zurückgefordert werden.
"Anstandslose Allmacht"
Es ist vor allem die Art und Weise, wie Ford mit der limburgischen Belegschaft umspringt, die schockiert, empört sich Het Nieuwsblad. Die Europadirektion ließ sich gar nicht erst blicken. Die örtliche Geschäftsführung musste lediglich einen Brief der amerikanischen Ford-Spitze vorlesen. Zwei Minuten reichten, um das Schicksal von 10.000 Menschen zu besiegeln. Das ist anstandslos, zeigt aber zugleich die Macht dieser Multinationals. Gegen die Entscheidung, die in einer amerikanischen Firmenzentrale getroffen wird, kann weder eine flämische noch eine belgische Regierung auch nur irgendetwas ausrichten.
La Dernière Heure schlägt in dieselbe Kerbe: Das Schema ist immer das gleiche. Renault begießt die Schließung seines Werks in Vilvoorde mit Champagner in einem Brüsseler Luxushotel; General Motors weigert sich, sein Werk in Antwerpen zu verkaufen aus Angst, es könnte sich dort ein Konkurrent einnisten. Ähnlich verfährt ArcelorMittal mit seinem Lütticher Hochofen. Was diese Multinationals eint, ist ihre Verachtung den Arbeitern und auch den Politikern gegenüber.
"Warum Ford die Tür zuknallt"
Viele Blätter forschen nach den Hintergründen für die Schließung von Ford Genk. "Warum Ford die Türe zuknallt", dieser Frage geht etwa La Libre Belgique auf ihrer Titelseite nach. Sicher: Der europäischen Autoindustrie geht es schlecht. Die Branche kämpft mit massiven Absatzproblemen. Das allein erklärt aber noch nicht, warum mal wieder ein Werk in Belgien über die Klinge springt.
Es sind für einmal nicht die Lohnkosten, die das erklären könnten, notiert dazu das GrenzEcho. Dass Genk schließen muss, und nicht etwa Köln oder Saarlouis, liegt vielmehr schlicht und einfach daran, dass Belgien einen zu kleinen Absatzmarkt darstellt. Und Belgien kann gegenüber den großen Märkten in Deutschland und Frankreich nichts in die Waagschale werfen.
Doch auch das erklärt nicht alles, meint La Libre Belgique. Hinzu kommt das in Belgien allgemein herrschende Klima der Unsicherheit. Das gilt nicht nur auf institutioneller Ebene; Belgien hat insgesamt keinen Plan. Weder in puncto Renten, noch in Bezug auf das Steuerrecht, den Arbeitsmarkt oder die Energieversorgung. Und in der Geschäftswelt gibt es nun mal nichts schlimmeres, als Unsicherheit.
Planlos und uneins ins Verderben…
Und noch etwas, fügt Het Laatste Nieuws hinzu: Die verschiedenen Regierungen haben diesmal nicht an einem Strang gezogen. Offensichtlich war der flämische Ministerpräsident Kris Peeters vorab über die Schließung von Ford Genk informiert worden. Er hat aber in dieser Sache nicht das Gespräch mit der Föderalregierung gesucht. Dabei hat sich in der Vergangenheit gezeigt: Wenn man sich zusammenrauft, dann kann man Unheil möglicherweise abwenden.
2003 wurde Ford Genk zwar verschlankt, aber eben nicht dicht gemacht. Und auch im Volkswagenwerk in Forest wurde das Schlimmste verhindert, weil Guy Verhofstadt und Yves Leterme seinerzeit gemeinsam Druck ausgeübt haben. Um die Zukunft von Ford Genk wurde nicht gekämpft.
L'Echo erinnert in diesem Zusammenhang an eine Maxime des französischen Journalisten und Politikers Emile de Girardin: "Regieren, das heißt vorausschauen." Das ist im Fall Ford Genk offensichtlich nicht passiert. Man hat doch das Unheil längst kommen sehen. Stichwort: Renault-Vilvoorde vor 15 Jahren. Offensichtlich hat aber niemand, weder auf föderaler noch auf regionaler Ebene, die Lehren daraus gezogen.
…und keine Besserung in Sicht
Stattdessen schustern sich die Regierungen jetzt gegenseitig den schwarzen Peter zu, beklagt De Morgen. Die Politik gibt damit ausgerechnet in einem so dramatischen Kontext mal wieder ein jämmerliches Bild ab.
Le Soir sieht das ähnlich. Im Augenblick machen mal wieder die üblichen Thekenparolen die Runde: Der Index ist schuld, die Lohnkosten sind schuld, die Arbeitgeber sind schuld, die Föderalregierung ist schuld, der Kapitalismus ist schuld. Warum kann man in diesem Land nicht einfach mal den Realitäten ins Auge sehen? Belgien braucht eine wirkliche Strategie, einen Plan. Und alle Beteiligten sollten hier an einem Strang ziehen.
Warum glauben wir in diesem Land immer noch, dass es für alle Probleme eine simple Erklärung gibt, fragt sich auch De Standaard. Weil jeder nach der EINEN Erklärung sucht - bis hin zum Streit zwischen Flamen und Wallonen - gerät die Debatte zur Karikatur. Ein ganzes Land steckt ein Großteil seiner Energie darin, zu polarisieren, zu spalten. Warum versuchen wir nicht einmal, alle zusammen an einem Plan für die Zukunft zu arbeiten?
Bild: Yorick Jansens (belga)