"Martin nach Freilassung im Kloster angekommen" titelt Grenz-Echo. "Auf der Suche nach Freiheit", so steht es in Blockbuchstaben auf Seite eins von Het Laatste Nieuws. "Vom Gefängnis in die Klosterzelle", schreibt De Standaard auf seiner Titelseite. Darunter ein Foto, das so oder so ähnlich in allen Zeitungen zu finden ist: das Foto vom Innenraum eines Autos, in dem man die Gesichtszüge und die Haare von Michelle Martin erkennen kann.
Michelle Martin in Malonne angekommen
Der Kassationshof hat ja am Dienstag das Urteil des Strafvollstreckungsgerichtes von Mons bestätigt. Damit ist die vorzeitige Haftentlassung rechtskräftig. "Martin hat damit die letzte Hürde genommen", bemerkt dazu La Libre Belgique. "Der Kassationshof öffnet die Gefängnistore", schreibt Le Soir. "An der Freilassung ist nichts ungesetzlich" zitiert Het Laatste Nieuws den Generalanwalt am Kassationshof, der offensichtlich keinerlei Formfehler in dem Urteil von Mons entdeckt hat.
Um 20:30 Uhr verließ Michel Martin das Frauengefängnis Brüssel-Berkendael. Von Beamten einer Eliteeinheit wurde sie dann nach Malonne gefahren. Dort traf sie um 22 Uhr 30 ein. Empfangen wurde sie unter anderem von wütenden Demonstranten. "Gejagt wie ein Wild", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad. "Von der Gefängniszelle ins kochende Malonne", so formuliert es Gazet van Antwerpen.
An Martin scheiden sich die Geister
"Martin spaltet das Land", stellt Le Soir auf seiner Titelseite fest. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die sagen: "Gesetz ist Gesetz". Dazu gehört auch die Mutter von Eefje Lambrecks, die erklärte: "Wenn Martin für eine vorzeitige Haftentlassung infrage kommt, wenn sie die Bedingungen erfüllt, dann gilt das Gesetz auch für sie." Das sieht im Übrigen Het Belang van Limburg genauso: Das Gesetz gilt für Michelle Martin wie für die 740 anderen Verurteilten, die im vergangenen Jahr vorzeitig auf freien Fuß gesetzt wurden. So bitter es auch sein mag: Das müssen die Dutroux-Opfer und auch die Gesellschaft insgesamt akzeptieren.
Auf der anderen Seite sind da die Leute, die schäumen vor Wut: "Ich möchte losschreien", wird Jean-Denis Lejeune zitiert, der Vater der toten Julie.
"Martin will mit den Opfern zusammentreffen", so die Schlagzeile von Het Belang van Limburg und Gazet Van Antwerpen. Sie wolle mit den Angehörigen über die Taten sprechen, sagte ihr Anwalt. Diese lehnen jedoch empört ab: "Wir lassen uns nicht manipulieren", heißt es da. "Das kommt viel zu spät", sagt Betty Marchal, die Mutter der toten An.
Jean-Denis Lejeune hat Martin einen Brief geschrieben, aus dem La Dernière Heure zitiert: "Ich werde ihnen nie verzeihen", gibt das Blatt auf Seite eins die Kernbotschaft wieder.
"Das Gesetz gehört geändert"
De Morgen denkt auf seiner Titelseite schon einem Schritt weiter. "Martin ist frei, jetzt bricht die Debatte über die Zukunft von Dutroux los", so die Schlagzeile auf Seite eins. Die Regierung arbeitet demnach an neuen Gesetzen, die insbesondere verhindern sollen, dass Dutroux irgendwann in naher Zukunft freikommen könnte. "Das Gesetz gehört geändert", meint auch La Libre Belgique auf ihrer Titelseite. Dabei muss im Grunde nur das Regierungsabkommen umgesetzt werden, in dem eine Reform der Politik der vorzeitigen Haftentlassung schon vorgesehen ist. Vertreter der Mehrheitsparteien haben offensichtlich am Dienstag stundenlang über eine entsprechende Gesetzesänderung debattiert.
Jetzt ist die Zeit gekommen, wo die Politik sich mit dem sogenannten Lejeune-Gesetz befassen muss, dass die vorzeitigen Haftentlassungen regelt, meint auch Het Laatste Nieuws. Die Schlacht ist geschlagen. Jetzt sollte man dafür sorgen, dass wieder Ruhe einkehrt. Und vor allem sollte man die Klarissenschwestern von Malonne in Frieden lassen. Sie leben konsequent nach ihren Glaubensgrundsätzen. Dafür verdienen sie Respekt, keine Drohungen.
Die Entscheidung hinnehmen
Auch Het Nieuwsblad mahnt zur Besonnenheit. Die gerichtliche Prozedur ist abgeschlossen und jetzt müssen wir damit leben. In dieser Angelegenheit gibt es keine Gewinner. Auch nicht Michelle Martin. Denn: Wie frei ist sie letztlich in ihrem neuen selbstgewählten Gefängnis? Die Empörung der letzten Tage hat gezeigt, dass Belgien die Gräueltaten der Dutroux-Bande so schnell nicht vergisst. Martin hat schon lange nichts mehr zu gewinnen.
So sehr man auch die Justiz kritisieren kann: Der Fall Martin zeigt, dass allein dieses unvollkommene Instrument uns trennt von Willkür und Lynchjustiz, bemerkt nachdenklich De Standaard. Und um diese fragile Abgrenzung vom Willkürstaat zu erhalten, müssen wir Tage wie diese akzeptieren. Jeder, der jetzt lauthals eine Reform der Politik der vorzeitigen Haftentlassung fordert, hatte 16 Jahre Zeit, das zu tun. Ausgerechnet die Politik wäre im Augenblick gut beraten, sich mit Besserwisserei vornehm zurückzuhalten.
Der "Ball der Scheinheiligen"
Das ist insbesondere eine Anspielung auf die jüngste Kontroverse zwischen den frankophonen Liberalen und Sozialisten. MR und PS machen sich gegenseitig für die Fehlkonstruktionen in der derzeitigen Gesetzgebung verantwortlich.
Das ist deplatziert, poltert La Libre Belgique. Die Sicherheit und die Justiz dürfen nicht zu Wahlkampfslogans verzerrt werden.
Das ist ein unwürdiges Schmierentheater, meint auch Gazet van Antwerpen. Statt sich in dieser Vorwahlzeit gegenseitig den schwarzen Peter unterzuschieben, sollte die Politik vielmehr kollektiv die Verantwortung übernehmen und unter Hochdruck das Lejeune-Gesetz anpassen. Damit ein zweiter Fall Martin verhindert werden kann.
La Dernière Heure spricht vom "Ball der Scheinheiligen". Dass Michelle Martin irgendwann mal freikommen würde, dass wusste jeder. Statt die Empörten zu mimen, hätten die Politiker dieses Landes besser ihre Arbeit getan. Die Justiz trifft keine Schuld: Ihre Aufgabe ist es, die Gesetze anzuwenden, nicht sie zu schreiben.
Vom Wahlkampffieber angesteckt
Die Politiker wären gut beraten, jetzt nicht allzu lang auf der Welle der Emotionen zu surfen, warnt auch Le Soir. Plötzlich versprechen gewisse Parteien, Zitat "endlich nicht verkürzbare Strafen" einzuführen. Das allerdings steht so nicht im Regierungsabkommen. Auch in Zukunft wird es möglich sein, Straftäter vorzeitig frei zu lassen. Man sollte den Mut haben, das den Bürgern auch so zu sagen.
Auch De Morgen warnt davor, sich jetzt in dieser wichtigen Debatte vom Wahlkampffieber anstecken zu lassen. Dass die Martin-Geschichte in der Bevölkerung für Überreaktionen sorgt ist zwar ärgerlich, aber nicht schädlich. Wenn die Politiker allerdings auf den populistischen Zug aufspringen, dann wird es bedenklich.
Archivbild: Dirk Waem (belga)