Heute beginnt die Fußball-Europameisterschaft, was natürlich viele Titelseiten prägt. Im Mittelpunkt der Kommentare steht aber vor allem die Verhaftung des Sprechers der Islamistenorganisation Sharia4Belgium. Ebenfalls im Fokus: Das Bekenntnis der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel für mehr Europa.
“Euro 2012 startet heute“, titeln Het Nieuwsblad und das Grenz-Echo. La Libre Belgique präsentiert ein ganzes Dossier: "Die Favoriten, die Überraschungen, die Prognosen", und stellt die Frage: "Hätte man die Ukraine boykottieren sollen?"
In die gleiche Richtung geht auch L'Avenir: "Euro 2012: Der Ball liegt im Lager der Ukraine", so die Schlagzeile. Denn: Die Ukraine hat in den letzten Wochen und Monaten eigentlich eher negative Schlagzeilen produziert.
Am sichtbarsten ist die internationale Polemik um die Inhaftierung der ehemaligen Premierministerin Julia Timoschenko. Der Rechtstaat in der ehemaligen Sowjet-Republik entspricht nicht internationalen Standards, notiert sinngemäß L’Avenir. Die Schlagzeile: “Drei Worte: Gewalt, Korruption, Straffreiheit“.
All das bekommt die ukrainische Führung zu spüren, bemerkt La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Die übergroße Mehrheit der europäischen Staats- und Regierungschefs wird wohl nicht in der Ehrenloge neben Präsident Janukowitsch Platz nehmen. Allerdings wird kaum jemand das wahrnehmen, weil die meisten Fernsehzuschauer ohnehin nur Augen für das Geschehen auf dem Fußballplatz haben. Wieder einmal kann der Sport auf Weltebene nur schwerlich in den Spiegel schauen. Wieder einmal besteht die Gefahr, dass ein Staat dank eines Sportereignisses sein Image aufpolieren kann.
Sharia4Belgium-Sprecher verhaftet
Fast alle Zeitungen beschäftigen sich außerdem mit der Festnahme von Fouad Belkacem, dem Sprecher der Islamistenorganisation Sharia4Belgium. "Festgenommen wegen Hasspredigten", schreibt Het Nieuwsblad auf Seite eins. "Sharia4Belgium geköpft", titelt Gazet Van Antwerpen. "Und jetzt muss er schnell des Landes verwiesen werden", hakt Het Laatste Nieuws ein.
Gegen Belkacem wird wegen Anstiftung zu Hass und Gewalt gegen Andersgläubige ermittelt. Jüngster Anlass war ein Vorfall im Zusammenhang mit einer Personenkontrolle in der Brüsseler Gemeinde Molenbeek. Eine vollverschleierte Frau weigerte sich, sich den Beamten gegenüber zu erkennen zu geben. Kaum war sie in Polizeigewahrsam genommen, da trommelte Sharia4Belgium auch schon Gesinnungsgenossen zusammen, die für Tumulte sorgten. In diesem Zusammenhang soll Belkacem zu gewalttätigen Aktionen aufgerufen haben, ist die Justiz überzeugt.
“Jetzt sitzt Fouad Belkacem dann doch im Gefängnis“, schreibt Het Laatste Nieuws, “und das nach 18 Verurteilungen.“ Bislang war der 30-Jährige dabei auf freiem Fuß geblieben. In jedem Fall gehört Fouad Belkacem ausgewiesen, meint die Zeitung. Die Toleranz unserer demokratischen Gesellschaft hat Grenzen. Freiheit kann nicht missbraucht werden, um eben diese Freiheit einzuschränken. Belkacem hat sein Recht auf die belgische Staatsbürgerschaft verloren. Das sieht offensichtlich die Justiz genauso, die ihm die Nationalität entziehen und ihn nach Marokko ausweisen will. Das wurde auch Zeit.
“Warum nicht früher?“, klagt Gazet van Antwerpen an. Gab es bislang nicht genug Argumente und Fakten, um gegen die Agitation von Fouad Belkacem vorzugehen? Warum plötzlich dieser Meinungsumschwung? Etwa, weil jetzt Molenbeek im Mittelpunkt stand, weil die Frankophonen damit erstmals direkt betroffen waren? In jedem Fall ist der plötzliche Eifer von Politik und Justiz fast schon rührend: Man reagiert erst, wenn eine längst bekannte Geschichte hochkocht.
Gefährliche Clowns
Het Nieuwsblad hat für Sharia4Belgium im Grunde nur Kopfschütteln übrig. Eigentlich ist das nicht mehr als eine Bande von Clowns, pubertäre Machos, die um jeden Preis Aufmerksamkeit suchen. Dass Belkacem vom Nobody zum Staatsfeind Nummer eins aufgestiegen ist, ist eigentlich zu viel der Ehre. Was nicht heißt, dass seine Verhaftung nicht früher hätte kommen müssen. Für Leute wie ihn gibt es keinen Platz in unserer Gesellschaft.
Auch für De Morgen sollte man die Kirche im Dorf lassen. Was für ein Theater in der Rue de la Loi, ereifert sich das Blatt. Plötzlich wird so getan, als wäre Sharia4Belgium die derzeit größte Gefahr für den belgischen Staat. Politiker überbieten sich mit Forderungen, doch jetzt mal hart durchzugreifen. Da fehlte noch der Ruf nach einer Steinigung von Fouad Belkacem. Jetzt sollen über Nacht neue Gesetze verabschiedet werden. Dabei liegt das Problem ganz anderswo: Gesetze gibt es genug. Die Frage ist vielmehr, warum Leute, die von der Polizei aufgespürt und von der Justiz verurteilt wurden, weiter ungestört durch die Weltgeschichte laufen dürfen?
Es ist nun mal so, hakt Het Belang van Limburg ein, dass in diesem Land Haftstrafen von unter drei Jahren in der Praxis nicht vollstreckt werden. Belkacem wurde insgesamt schon 18 Mal verurteilt. Zuletzt Anfang Mai. Der einzige Fehler, den er begangen hat, ist es, Antwerpen zu verlassen: Jetzt wissen auch die Frankophonen, wer er ist. L’Avenir räumt ein, dass so mancher, vor allem im Süden des Landes, wohl viel zu lange die Augen vor der Realität verschlossen hat. Wobei: In der Mitte liegt die Wahrheit. Man sollte nichts ignorieren, aber auch nichts dramatisieren. Hoffentlich entscheiden sich die Parteien in Belgien für einen realistischen und pragmatischen Weg.
Merkel will “mehr Europa“
"Merkel will ein gestärktes Europa", titelt derweil Le Soir. Demnach hat die deutsche Bundeskanzlerin eine Reihe von neuen Rezepten präsentiert, um die Eurozone aus der Krise zu führen. Kerngedanke: Wir brauchen mehr Europa, ein politisch noch mehr geeintes Europa. Und dabei sollte man nicht mehr auf die Zweifler und Bremser warten, wird Merkel zitiert. Also: Notfalls soll es ein Europa der zwei Geschwindigkeiten geben.
Doch meint die Frau das ernst, fragt sich Le Soir in seinem Leitartikel. Ist Deutschland wirklich bereit, den Integrationsprozess konsequent voranzutreiben? Die Frage ist derzeit nicht zu beantworten. In jedem Fall bedarf es aber mehr als nur deutscher Lippenbekenntnisse, um die europäischen Bürger von dem Projekt zu überzeugen. Wir brauchen jetzt wirkliche Lösungen, keine Parolen.
L'Echo sieht das ähnlich. Wenn überhaupt, dann präsentiert Deutschland jetzt eine Langzeitvision. Die meisten Partner hingegen erwarten Sofortmaßnahmen.
Bild: Alexander Klein (afp)