"400 zusätzliche Polizisten für Brüssel" titeln heute fast gleichlautend Het Laatste Nieuws, l'Avenir, De Standaard oder auch Le Soir. De Morgen und Gazet van Antwerpen widmen ihre Titelseite dem Streik bei der Brüsseler Nahverkehrsgesellschaft STIB und möglichen weiteren Protesten. La Dernière Heure bringt ihrerseits "das Porträt des Killers".
Tod eines STIB-Mitarbeiters
Der Schock sitzt tief seit dem Tod eines STIB-Mitarbeiters am Samstagmorgen. Am Anfang steht ein banaler Verkehrsunfall zwischen einem Bus und einem offenbar betrunkenen Autofahrer. Ein Kontrollbeamter der STIB soll den Unfall aufnehmen als plötzlich ein Freund des Unfallfahrers auftaucht und ihn angreift. Der 56-jährige STIB-Kontrolleur erleidet eine Hirnblutung und stirbt wenig später.
Ein einziger Faustschlag kann töten, stellt La Dernière Heure fest. Der Täter stand offenbar unter Alkoholeinfluss, war bislang aber ein eher unbeschriebenes Blatt. Gegen ihn wird wegen Todschlags ermittelt.
Für die STIB-Belegschaft ist das Maß voll. "Es vergeht kein Tag ohne dass man attackiert würde", bringt l'Avenir das Grundgefühl bei den Busfahrern und Bahnführern auf den Punkt. Gleich nach dem tragischen Vorfall haben sie die Arbeit nieder gelegt. Am Montag hat Innenministerin Joëlle Milquet zusammen mit Vertretern der Brüsseler Regionalregierung über eine mögliche Antwort auf die Tragödie beraten. Resultat: 400 zusätzliche Polizisten sollen im öffentlichen Nahverkehr für Sicherheit sorgen. Auch das Sicherheitspersonal der STIB soll aufgestockt werden. Ob das die geschockten STIB-Mitarbeiter beruhigen wird, ob sie auf dieser Grundlage ihre Arbeit wieder aufnehmen werden, ist noch offen.
De Morgen rechnet die ganze Woche über mit Behinderungen im gesamten öffentlichen Transportwesen. Die sozialistische Gewerkschaft FGTB plädiert für landesweite Proteste. Am Donnerstag etwa sollen die Beschäftigten der SNCB und auch der regionalen Nahverkehrsgesellschaften TEC und de Lijn für wenigstens eine Stunde die Arbeit niederlegen, aus Solidarität mit ihrem toten Kollegen, wie auch Gazet van Antwerpen auf seiner Titelseite berichtet.
"Streik ist keine Lösung"
Für l'Avenir geht das Ganze inzwischen zu weit. Es mag so aussehen, als hätte die Emotion die Oberhand über die Vernunft erlangt. Dass der Tod eines STIB-Mitarbeiters absolut inakzeptabel ist und Folgen haben muss, steht außer Frage. Muss man dafür aber gleich tagelang den kompletten Brüsseler Nahverkehr lahm legen, fragt sich das Blatt. Glauben die STIB-Mitarbeiter allen Ernstes, dass sich die Gesellschaft ohne den Streik nicht die richtigen Fragen gestellt hätte?
Dies, zumal der Vorfall nicht unbedingt stellvertretend für die Alltagsprobleme der STIB-Mitarbeiter steht, bemerkt De Morgen. Dass sich das Drama an der Grenze zum Brüsseler Problemviertel Molenbeek ereignet hat, ist reiner Zufall. Dass die Attacke auf den STIB-Kontrolleur so tragische Konsequenzen hatte, hat auch viel mit Pech zu tun. Das Opfer wurde ganz offensichtlich unglücklich getroffen. Das soll nichts beschönigen. Und klar: Der Täter muss streng bestraft werden. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht unmittelbar um die Sicherheit in den Fahrzeugen der STIB, sondern vielmehr um ein Gesellschaftsproblem.
La Libre Belgique sieht das ähnlich, will aber in diesem Zusammenhang das Wort "Pech" nicht hören. Der eine oder andere mag in dem Tod des STIB-Kontrolleurs eine "unglückliche Verkettung von Ereignissen sehen. Das allerdings wäre zu einfach. Der Vorfall ist vielmehr eine Illustration der wachsenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft, wo immer mehr immer frustriertere Menschen für ein Kinkerlitzchen gleich Gewalt anwenden. Jetzt reichts, meint La Libre Belgique.
Ein typisch Brüsseler Problem?
Gazet van Antwerpen sieht hier dennoch in erster Linie ein Brüsseler Problem und die Brüsseler Politiker, insbesondere auf der linken Seite, stecken nach wie vor den Kopf in den Sand. Die Moreaux' und Picqués dieser Welt schaffen es gar, Zwischenfälle mit Kriegswaffen herunter zu spielen. Hinzu kommt die faktische Straffreiheit bei vielen angeblich kleineren Delikten. Resultat: Für viele Verbrecher ist Belgien und insbesondere Brüssel ein wahres Paradies.
Nein! Brüssel ist nicht die weltweite Hauptstadt der Unsicherheit, widerspricht Le Soir. Ja, es stimmt: In Brüssel gibt es Aggressivität und Gewalt. Doch ist Brüssel da in keiner Weise eine Ausnahme. Mögliche Ursachen sind der sprunghafte Anstieg der Bevölkerung und eine grassierende Arbeitslosigkeit. Damit verbunden: eine immer größer werdende soziale Kluft. All das muss man vor Augen haben und bekämpfen, um neue Tragödien zu verhindern.
Gegen alle Klischees
Und noch etwas gilt es hervorzuheben, meint De Standaard. Der vorliegende Fall stellt sämtliche Vorurteile auf den Kopf. Iliaz Tahiraj stammt aus Albanien. Seine Lebensgeschichte ist die einer gelungenen Integration. Seit über 30 Jahren arbeitete er bei der STIB, bis zum Samstagmorgen. Er wurde verwickelt in einen Fall von grundloser Gewalt, aber als Opfer. Nicht er, der Ausländischstämmige, war der Aggressor. Er, der Immigrant, war wie wir alle, die wir versuchen, ohne Aufhebens das zu tun, was von uns erwartet wird.
Und der Täter war ein, wie es immer so schön heißt, "normaler Belgier", hakt Het Nieuwsblad ein. Das alles zeigt doch, dass eine komplexe Stadt wie Brüssel nicht auf einfache Klischees zu reduzieren ist. Die Probleme sind die einer Stadt, in der viele Menschen zusammen leben müssen. Iliaz Tahiraj war dafür zuständig, bei problematischen Situationen in Brüsseler Bussen einzugreifen. Und sein Problem hieß Alexandre.
Effiziente Strafverfolgung, das wäre denn auch allenfalls die halbe Miete, glaubt Het Belang van Limburg. Unsere Gesellschaft wird immer individualistischer und materialistischer, das "ich" ist wichtiger als das "wir". Die Schubumkehr kann nur von uns selbst kommen.
Archivbild: Nicolas Maeterlinck (belga)
Total witzig, vorhersehbar und billig, wie in Belgien (und sicher sonstwo) politisch korrekt gelogen wird :
Zitat : "Nein! Brüssel ist nicht die weltweite Hauptstadt der Unsicherheit, widerspricht Le Soir. Ja, es stimmt: In Brüssel gibt es Aggressivität und Gewalt. Doch ist Brüssel da in keiner Weise eine Ausnahme. Mögliche Ursachen sind der sprunghafte Anstieg der Bevölkerung und eine grassierende Arbeitslosigkeit..."
1. Brüssel ist jedesmal in den TOP5 der gefährlichsten EU Hauptstädte, wobei es hauptsächlich um Mord geht. Die ganzen anderen Delikte, denen man hier ausgesetzt ist, Einbrüche, Carjacking, Gewalt und Pöbelei, aufgebrochene Autos - das wird längst hier in den Kommissariaten gar nicht mehr aufgenommen, die schicken einen weg mit "keine Zeit für solche Peanuts...wir wissen es ist eine Bande unterwegs, wir sind ""informiert""... sind Sie ja selbst schuld, bei Dunkelheit auf der Strasse zu sein.... ja, was parken Sie Ihr Auto auch auf der Strasse ?""" - wobei grade diese Kleinkriminalität (in Brüssel übrigens straffrei) das Leben hier so unangenehm macht und Brüssel dabei auf PLATZ EINS in Europa landet.
2. Im gleichen Satz (typisch belgisch) wird aber zugegeben, es gäbe ein Problem, aber das ist "halt so". Da kann man wohl nichts machen. Schuld sind Bevölkerungsanstieg und Arbeitslosigkeit.
Da muss ich halt wohl damit rechnen, überfallen, zusammengeschlagen, von der Polizei liegen gelassen und verspottet zu werden. Denn ich bin ja (leider) nicht arbeitslos und es ist normal dass ich somit überfallen werden MUSS.
Gleichzeitig, wäre ich arbeitslos, und hätte etwas Ehrgefühl, würde ich mich schwerstens beleidigt fühlen, da offenbar normal und zwingend logisch, dass ich ein regelmässiger Gewalttäter bin. Zumindest wenn man diesen abgehobenen Politikern glauben soll. Ebenso würde ich mir dann irgendwann sagen: wenn es von den Hohen Herren und Damen halt so erwartet wird, verdien ich mir halt mein Zubrot indem ich Omas zusammenschlag und die Beamten im EU-Viertel auf dem Nachhauseweg absteche.
Hinzu kommt aber auch das politisch korrekte Wegsehen was Religion betrifft. Es geht hier nicht um Rassismus, denn ein katholischer, jüdischer, oder muslimischer Gewalttäter bleibt ein Gewalttäter. Ich finde es vielmehr politisch unkorrekt, da Unterschiede zu machen und besondere Rücksicht auf bestimmte Bevölkerungsgruppen (noch dazu abhängig vom Kriterium "Religion"!) zu nehmen. In diesem Fall hiess der Täter wohl "Alexandre". Was aber wenn er, wie so schrecklich viele, "Djihad" oder "Ali" hiess ? Diese Frage lass ich mal so im Raum stehen. Würde das im Artikel extra erwähnt werden ? So wie "Alexandre" ? Wer weiss es ?
Fest steht, das scheint alles ganz schön schietegal zu sein, und Brüssel verkommt in der Tat zu einem juristischen Niemandsland, einem gesetzlosen schwarzen Loch. Hier wird man allenfalls als blonder EU-Beamter von der Polizei angeschissen wenn man bei rot über die Ampel geht. Anscheinend hat sich herumgesprochen, dass so blonde Beamte weniger gewaltbereit sind als "andere Bevölkerungsgruppen". Komisch. Ich versteh gar nicht warum. Jedenfalls, mehr macht die Polizei hier nicht. Wie denn auch. Totales Verwaltungschaos à la belge, keine Ausbildung, keine Mittel, kein Bock und überhaupt. Ich könnte Geschichten über die belgische Polizei erzählen, das füllt Bücher. Insofern ist das alles aber auch kein Wunder. Denn entgegen den verharmlosenden belgischen Medien, die wie immer brav der Politik nach dem Munde reden, ist Brüssel Europas Hauptstadt der Gewalt. Aber wie sagte ein belgischer Politiker : Was regt Ihr Euch denn auf, in den Favelas von Rio ist es ja wohl noch schlimmer.
Sehr geehrter Herr Meyer,
hier Ihr Artikel, sollten Sie als Leserbrief im Grenz-Echo veröffentlichen, denn Sie sprechen furchtbar vielen Bürgern, die in Brüssel leben, oder auch nicht aus dem Herzen! Ich finde, und das meine ich hier Todernst, ein super geschriebener Artikel! Daumen hoch! 🙂
Richtig schön detailliert geschrieben und nichts erstunken oder erlogen dagelegt. Super!
Liebe Grüsse
Gina