wenn der Täter nicht vorzeitig aus der Haft entlassen worden wäre. Premierminister Elio Di Rupo hat in jedem Fall versprochen, die Konsequenzen aus der Tragödie zu ziehen, die sich nach reiflicher Überlegung aufdrängen.
"Amrani hätte niemals freikommen dürfen", titelt heute De Morgen. "Freigelassen trotz zweier negativer Gutachten", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad.
Im Zusammenhang mit der vorzeitigen Haftentlassung des Amokläufers von Lüttich gibt es neue Erkenntnisse. Demnach sollen sich sowohl die zuständige Staatsanwaltschaft als auch die Gefängnisdirektion von Andenne gegen eine frühzeitige Freilassung von Nordine Amrani ausgesprochen haben. Demgegenüber betrachtete ein Gerichtspsychologe der Haftanstalt von Marneffe das Risiko, dass Amrani wieder straffällig wird, als eher gering. Das zuständige Vollstreckungsgericht folgte dieser Einschätzung: Amrani wurde im Oktober 2010 auf freien Fuß gesetzt, nachdem er mehr als zwei Drittel seiner Haftstrafe abgesessen hatte.
"In Flandern wäre ein Mann mit einem solchen Profil niemals freigekommen", sagt der Staranwalt Jeff Vermassen in De Morgen und Het Nieuwsblad.
Amrani zu früh freigelassen?
Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, meint dazu L'Avenir im Kommentar. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Darüber hinaus muss man sich die Frage stellen, ob man die Wahnsinnstat von Lüttich wirklich verhindert hätte, wenn Amrani im Gefängnis geblieben wäre. Es ist durchaus denkbar, dass Nordine Amrani auch nach der Verbüßung der vollen Haftstrafe die Sicherungen durchgebrannt wären.
Ähnlich sieht das De Morgen. Amrani war von Hass erfüllt gegen die Justiz. Dieser Hass wäre wohl im Gefängnis nur noch größer geworden. Genau deswegen gibt es ja schließlich das System der vorzeitigen Haftentlassung: Man muss die Häftlinge dazu ermuntern, ein korrektes Verhalten an den Tag zu legen und ihnen eine Chance auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft geben. Ihnen diese Perspektive zu nehmen wäre kontraproduktiv. Der Ruf nach mehr Repression ist emotional verständlich, aber dafür immer noch nicht vernünftig.
Das System der vorzeitigen Haftentlassungen abzuschaffen, das ist keine Alternative, meint auch Het Belang van Limburg. Das Problem würde damit allenfalls um ein paar Monate oder Jahre verschoben. Die einzige Lösung wäre, eine bessere Begleitung und Kontrolle derjenigen, die das Gefängnis vorzeitig verlassen.
Lernen aus der Tragödie
Die neue Regierung hat versprochen, die Lehren aus der Tragödie zu ziehen. Premierminister Elio Di Rupo nannte gestern im Parlament fünf Prioritäten. Le Soir spricht auf seiner Titelseite von "Fünf Lehren" aus dem Massaker. Unter anderem sollen die Politik der vorzeitigen Haftentlassung überdacht und die Bekämpfung des illegalen Waffenhandels verschärft werden.
Viele Leitartikler heben die Besonnenheit hervor, die die anschließende Kammerdebatte geprägt hat. Niemand hat die Plenarsitzung dazu missbraucht, auf dem Rücken der Opfer des Lütticher Amoklaufs politisch zu punkten, unterstreicht etwa De Morgen.
Das Niveau des Ideenaustauschs ist der Tragödie gerecht geworden, meint auch La Libre Belgique. Viele Abgeordnete haben die richtigen Worte gefunden, um ihre Bestürzung zum Ausdruck zu bringen, beziehungsweise den Rettungskräften zu danken. Die meisten von ihnen räumten zudem ein, dass man jetzt nichts übers Knie brechen sollte und etwaige Reformen erst nach reiflicher Überlegung anstoßen darf.
Het Laatste Nieuws reagiert da in seinem Leitartikel nicht ganz so wohlwollend. Längst ist bekannt, dass bei der Justiz einiges im Argen liegt. Der Kammerabgeordnete Jean-Marie Dedecker brachte es gestern auf den Punkt: Wenn es möglich ist, 600 Spitzensportler tagtäglich auf möglichen Dopinggebrauch hin zu kontrollieren, dann sollte es ja kein Problem sein, einige hundert vorzeitig aus der Haft entlassene Straftäter zu begleiten und zu überwachen. Dass es sich bei Amrani um einen Wiederholungstäter handelt, hat Premier Di Rupo nach eigenen Worten geschockt. Da darf man sich doch fragen, ob der Mann urplötzlich in der Wirklichkeit angekommen ist.
Waffen leicht zu bekommen?
Ebenfalls bekannt ist ja die Problematik des illegalen Waffenhandels: Ist es wirklich so einfach, sich in Belgien unter der Hand eine Waffe zu verschaffen, fragen sich viele Zeitungen? "Nein!", sagen Experten in Le Soir. Die Schlagzeile von Gazet van Antwerpen lässt anderes vermuten: "Russische Revolver sind in Belgien frei erhältlich". Anscheinend ist es so: Laut Waffengesetz ist der Verkauf einer gewissen russischen Handfeuerwaffe erlaubt, weil es angeblich keine Munition mehr für den Revolver gibt. Das allerdings stimmt offenbar nicht.
La Dernière Heure bedankt sich derweil bei seinen Lesern. Das Blatt hatte dazu aufgerufen, den Eltern des Kleinkindes zu helfen, das am Dienstag in Lüttich das Leben verloren hat. Durch die zahlreich eingegangenen Spenden können die Eltern jetzt ihr Kind in Würde zu Grabe tragen, unterstreicht das Blatt.
Wo ist Elke Wevers?
In Flandern sorgt derweil noch ein anderes Drama für Aufregung: Seit mehr als einem Jahr wird die 32-jährige Limburgerin Elke Wevers vermisst. Jetzt sitzt ihr damaliger Lebensgefährte als Hauptverdächtiger in U-Haft, wie Het Laatste Nieuws auf seiner Titelseite berichtet. "Des Mordes verdächtig", wie Het Belang Van Limburg hervorhebt.
Fast alle Zeitungen, insbesondere die frankophonen Blätter, stellen heute den neuen wallonischen Minister für Landwirtschaft und öffentliche Arbeiten vor: Der CDH-Politiker Carlo Di Antonio wird Nachfolger von Benoît Lutgen, der ja den Vorsitz seiner Partei übernommen hat.
Ganz anderes Thema auf der Titelseite von L'Echo: Die belgische Autoindustrie boomt, schreibt das Blatt. Selbst nach der Schließung von Opel-Antwerpen wurden in diesem Jahr in Belgien mehr Autos montiert als 2010. Bei Ford Genk, Volvo Gent und Audi Forest liefen insgesamt rund 560.000 Autos vom Band.
Bild: Bruno Fahy (belga)