Ganz klar im Mittelpunkt der Berichte und Kommentare in der Tagespresse steht auch heute der blutige Amoklauf von Lüttich. Viele Zeitungen versuchen dabei, ein Psychogramm des Täters zu erstellen. Die Kernfrage lautet jetzt aber, welche Lehren die Politik aus der Tragödie ziehen kann.
Zweites großes Thema ist die drohende Wirtschaftskrise und parallel dazu die neuerliche Streikankündigung der Gewerkschaften.
"Lüttich: Blumen und Kerzen für die Opfer des Anschlags", schreibt heute das Grenz-Echo auf Seite eins. "Lüttich rückt nach dem blutigen Anschlag näher zusammen", titelt Gazet van Antwerpen.
Das ganze Land steht nach dem dramatischen Amoklauf von Lüttich weiter unter Schock. Viele Zeitungen gedenken heute besonders der Opfer, bringen Porträts der Menschen, die die Wahnsinnstat von Nordine Amrani nicht überlebten. So zum Beispiel der 17 Monate alte Gabriel, dem Het Nieuwsblad auf seiner Titelseite sozusagen ein Denkmal setzt. "Gabriel starb durch eine Kugel, die für mich bestimmt war", zitiert das Blatt die Mutter des Kindes.
Hypothesen statt Antworten - Wer war Nordine Amrani?
Der Amoklauf von Lüttich führt uns allen auf schmerzliche Weise vor Augen, dass Belgien keine Insel ist, meint La Dernière Heure in ihrem Leitartikel. Eigentlich lebt man ja in der trügerischen Gewissheit, dass alle Katastrophen überall stattfinden, nur nicht bei uns. Die Wahnsinnstat von Lüttich holt uns in die Wirklichkeit zurück. Die Opfer und deren Angehörige, die Verletzten, sie alle haben ein Recht auf eine Erklärung, wollen Antworten auf ihre Fragen. Allerdings wird man sich wohl im Fall Amrani mit Hypothesen begnügen müssen.
"Wer war Nordine Amrani?", fragt sich denn auch La Libre Belgique auf ihrer Titelseite. Le Soir versucht, den "Weg eines Killers" nachzuzeichnen. Viele Zeitungen versuchen, ein Psychogramm des Amokläufers zu erstellen. "War er eine gefühllose Maschine?", fragt sich etwa L'Avenir.
De Standaard hat seinerseits die Gerichtsakte des Killers einsehen können und kommt zu einer ernüchternden Schlussfolgerung: Amrani machte einen ungefährlichen Eindruck. Demnach betrachtete man ihn fast schon als vorbildlichen Ex-Häftling. Bei der Justiz war man anscheinend davon überzeugt, dass der 33-Jährige auf einem guten Weg war.
Die Konsequenz aus dieser Grundhaltung fasst die Schlagzeile von Het Laatste Nieuws und De Morgen zusammen: "Justiz und Polizei ließen Amrani in Ruhe". Für die Polizei galt demnach die Vorgabe, wonach vorzeitig aus der Haft entlassenen Straftätern nicht zu sehr auf die Pelle gerückt werden soll, konstatiert Het Laatste Nieuws. Der Mann musste sich lediglich einmal pro Monat bei seinem Betreuer melden, stellt De Morgen fest. Da dürfte es wohl schwierig sein, sich eine Meinung über einen Menschen zu bilden.
Jetzt ist die Politik am Zug
Nach der allgemeinen Solidarität und der kollektiven Traumabewältigung ist jetzt jedenfalls die Politik am Zug, meint Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Im vorliegenden Fall ist es allerdings schwierig, die Lehren aus der Tragödie zu ziehen. Offensichtlich erscheint aber, dass die Politik der vorzeitigen Haftentlassungen überdacht und die Bekämpfung von Waffenschmuggel verschärft werden müssen. In jedem Fall muss die Politik zeigen, dass sie es ernst meint.
Es ist immer das gleiche, beklagt Gazet van Antwerpen: Es müssen immer erst dramatische Dinge passieren, damit der Gesetzgeber eingreift. Wie kann es sein, dass ein Waffennarr wie Amrani nicht kontrolliert wird? Bei ihm war schließlich ein veritables Waffenarsenal sichergestellt worden, nur aufgrund eines Prozedurfehlers wurde er dafür nicht verurteilt. Die Konsequenz kann nur lauten: Waffenbesitz gehört generell verboten, Feuerwaffen haben in Privatwohnungen nichts verloren.
Le Soir warnt hingegen vor Aktionismus. Emotionen und Überstürzung sind schlechte Berater. Das zeigen etwa die Reaktionen auf frühere Tragödien vergleichbaren Ausmaßes. Beispiel: Das Waffengesetz, das 2006 nach dem Amoklauf von Hans Van Themsche überstürzt verschärft wurde, das aber weiterhin Defizite und Hintertüren aufweist. Zunächst gilt es, die Ursache des Lütticher Dramas eingehend zu prüfen. Alles andere ist Populismus als Antwort auf den schwelenden Volkszorn.
Volkszorn
Genau den thematisieren einige Blätter in ihren Leitartikeln. Das Grenz-Echo etwa warnt vor Pauschalurteilen nach dem Motto: "Es war mal wieder einer dieser kriminellen Ausländer". Viele Kommentare erboster Bürger zeigen: Die Fähigkeit zu kritischem Denken bleibt in emotionalen Ausnahmesituationen nur allzu leicht auf der Strecke. Das allerdings ist eine Erklärung, keine Entschuldigung.
Auch L'Avenir wird angesichts vieler Reaktionen etwa im Internet oder in Leserbriefen Angst und Bange. Hier werden wahlweise die Justiz oder die Muslime an den Pranger gestellt, wird unnuanciert ein Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität suggeriert. Zweifelsohne werden wir alle von Emotionen überrollt, dabei muss aber die Vernunft die Oberhand behalten.
Wirtschaft stagniert
Ganz anderes Thema auf der Titelseite von L'Echo: "Das Wirtschaftswachstum ist auf dem Nullpunkt", titelt das Blatt. Dabei kann man aber nur feststellten: Der Arbeitsmarkt hält der drohenden Wirtschaftskrise stand. Es wird keine Rezession wie im Jahr 2009, beruhigt das Börsenblatt in seinem Kommentar. Es dürften etwa unterm Strich immer noch mehr Arbeitsplätze geschaffen als abgebaut werden. Problematisch bleiben aber die Wettbewerbsfähigkeit und insbesondere die Lohnindex-Bindung.
Die Regierung wird jedenfalls nachjustieren müssen, konstatiert Het Belang van Limburg. Die Basisdaten, auf denen der Haushalt fußt, sind überholt. Die Frage ist nur, ob die Regierung stark genug sein wird, das zu tun, was nötig ist. Die Gewerkschaften drohen schließlich schon mit einem neuen Generalstreik am 30. Januar.
Zwischen Politik und Gewerkschaften droht das ultimative Kräftemessen, meint auch De Standaard. Die Gewerkschaftsbosse sind hier zwischen Hammer und Amboss: Sie stehen unter dem gewaltigen Druck der Basis, ignoriert man deren Forderungen, dann droht die Situation unkontrollierbar zu werden. Die Frage ist nur, ob es im Koalitionsabkommen überhaupt die nötigen Spielräume gibt, um Schritte auf die Gewerkschaften zuzumachen.
Kirche entschädigt Missbrauchsopfer
Viele Zeitungen schließlich befassen sich heute auch mit der Ankündigung der katholischen Kirche, die ja jetzt Missbrauchsopfer entschädigen will. Kommentierend meint dazu La Libre Belgique: Die Kirche hat offensichtlich ihre Lektionen gelernt, besser spät als nie. In jedem Fall flüchtet sie nicht mehr vor ihrer Verantwortung und zeigt damit, dass sie die Erwartungen der Bürger ernst nimmt.
Bild: Robin Utrecht (belga)