"Alarmstufe rot", titelt heute Gazet van Antwerpen. "Notfall!", steht gefolgt von einem dicken Ausrufezeichen auf Seite 1 von La Libre Belgique. "Keine Gnade mehr für Belgien", so die Schlagzeile von De Standaard.
Viele Titelseiten illustrieren den Ernst der Lage. "Belgien heruntergestuft", bringt es Le Soir auf den Punkt. "Standard & Poor's bestraft Belgien", titelt L'Echo. Die Ratingagentur Standard & Poor's hat gestern die Kreditwürdigkeit Belgiens nach unten korrigiert, von AA+ nach AA.
Le Soir listet auf seiner Titelseite auf, was das bedeuten kann: Die Staatsschuld wird teurer und das hat auch Einfluss auf viele andere Kredite, was der Wirtschaft wohl nicht gut tun wird. Und auf Seiten der Politiker gilt urplötzlich das Motto: "Rette sich, wer kann".
"Das haben wir jetzt davon"
Viele Leitartikler machen eben diese Politiker für das Debakel verantwortlich. Die Schuld liegt bei all jenen, die monatelang auf der Stelle getreten haben und die selbst unter den düstersten Vorzeichen immer noch glaubten, Zeit für politische Spielchen zu haben, poltert etwa Het Laatste Nieuws. Jetzt ist das passiert, was passieren musste. Die Herabstufung des Ratings ist nichts anderes als der ultimative Vertrauensverlust. Jetzt gehören wir offiziell zu den schwächeren Ländern in Europa.
Was die Politik da in den letzten Tagen dargeboten hat, das war buchstäblich der helle Wahnsinn, meint auch L'Avenir, die ein schönes Bild bemüht: Das Haus Belgien brennt, aber wir haben uns noch die Zeit genommen, die Feuerwehrleute einer Leibesvisitation zu unterziehen, um zu überprüfen, ob sie keine Streichhölzer dabei haben. Dass die Verhandlungspartner in dieser Woche trotz der sich überschlagenden Ereignisse zwischenzeitlich sogar ihre Verhandlungen ausgesetzt haben, dass ist niemandem zu verkaufen.
Auch Het Nieuwsblad denkt bei all dem an Streichhölzer. Die Vertreter der sechs Parteien um Regierungsbildner Elio Di Rupo haben mit dem Feuer gespielt. Doch es sind unser aller Finger, die sie damit verbrannt haben. 530 Tage lang hat die versammelte Politikerkaste so getan, als hätten sie alle Zeit der Welt, um ihre kleinen Scharmützel auszutragen. 53 Tage lang haben wir so getan, als wäre Belgien auf wundersame Weise immun gegen all die Plagen, die den Rest von Europa heimsuchen. Mit der Dramatisierung der letzten Tage haben die Parteien diesem Eindruck noch die Krone aufgesetzt. Es wird immer schwieriger, diesen Politikern noch Vertrauen zu schenken.
Zickiger Regierungsbildner?
Vor allem Regierungsbildner Elio Di Rupo ist bei einigen Leitartiklern buchstäblich "unten durch". Zwischen Montag und Donnerstag ruhten die Verhandlungen, während es in der Euro-Zone an allen Ecken und Enden brannte, konstatiert Gazet van Antwerpen. Und das wegen eines zickigen Regierungsbildners. Es ist zum verrückt werden, allein in der letzten Woche ist der Zinssatz auf belgische Staatsanleihen um einen Prozentpunkt gestiegen. Das gab's noch nie. Belgien ist wieder ein bisschen näher ans Mittelmeer gerückt.
Di Rupo trägt in diesem Trauerspiel eine erdrückende Verantwortung, urteilt Het Belang van Limburg. Am 16. Mai hat Di Rupo das Amt des Regierungsbildners übernommen. Seither sitzt die N-VA, mit der ja angeblich kein Abkommen möglich war, nicht mehr am Tisch. Der 16. Mai, das war vor 195 Tagen. Unsere Politiker verhandeln sich buchstäblich zu Tode. Und heraus kommen wahrscheinlich halbe Sachen. Nicht umsonst hat Standard & Poor's einen negativen Ausblick für Belgien gegeben, sprich: Die Ratingsagentur behält sich das Recht vor, die Kreditwürdigkeit noch einmal herunterzustufen.
Immerhin wird wieder verhandelt
Allen voran der amtierende Premier Yves Leterme hat denn auch an die Brüsseler Verhandlungspartner appelliert, jetzt Dampf zu machen. Wenn am Montagmorgen die Finanzmärkte öffnen, muss der Haushaltsentwurf 2012 vorliegen, ansonsten droht wirklich das Chaos.
"Standard & Poor's setzt Di Rupo unter enormen Druck", titelt denn auch Het Belang van Limburg. Anscheinend haben sich aber die sechs Parteien wohl unter dem Eindruck der Rating-Absenkung zusammengerauft. Seit gestern Abend wird wieder verhandelt. Aber: "Es ist zu spät", wie De Morgen und Het Nieuwsblad auf ihrer Titelseite festhalten.
Immerhin scheinen sich insbesondere Sozialisten und Liberale soweit einander angenähert zu haben, dass es zumindest wieder eine gemeinsame Gesprächsgrundlage gibt. Wer hat nachgegeben? Het Laatste Nieuws glaubt die Antwort zu kennen: Open-Vld-Chef Alexander de Croo hat seinen Willen durchgesetzt. Offenbar haben die flämischen Liberalen erreicht, dass gewisse Strukturreformen, etwa eine Verschärfung der Frühpensionsregelung, schneller und entschlossener durchgesetzt werden.
De Morgen kann in seinem Leitartikel auch nur feststellen, dass die frankophonen Sozialisten eine ganze Reihe von Maßnahmen schlucken müssen, die die PS nur schwer ihrer Basis verkaufen kann. Doch muss man irgendwann über seinen Schatten springen. Noch mehr Aufschub hätte Chaos bedeutet. Man muss sich auch vor Augen halten, dass der Haushalt angesichts der schlechten Wirtschaftsprognosen ohnehin auf Sand gebaut ist: Man wird wohl schon sehr bald neue Milliarden finden müssen.
Das Schnüren des Haushalts 2012 ist ungemein kompliziert, räumt La Libre Belgique ein. Das Land steht quasi vor einem Paradigmenwechsel. Doch bei allem Verständnis: Das Zögern der letzten Tage hat den Staat und seine Bürger ein Vermögen gekostet. Jetzt bedarf es einer Einigung, es geht nämlich ums Überleben.
Belgien - Ein Spielball
Einige Blätter beklagen dabei die Tatsache, dass Belgien eigentlich sein Schicksal nicht mehr selbst in der Hand hat. Die Macht liegt nicht mehr bei der Politik, sondern bei den Finanzmärkten, konstatiert etwa La Dernière Heure. Jetzt, durch die Herabstufung der Kreditwürdigkeit, droht auch Belgien ins Fadenkreuz skrupelloser Spekulanten zu geraten. Und am Beispiel von Griechenland oder Italien zeigt sich: Notfalls werden sogar demokratisch gewählte Politiker durch Technokraten ersetzt. Es sind die Märkte, die jetzt die Gesetze machen.
Auch De Standaard bettet die jüngsten Ereignisse in den internationalen Kontext ein. Belgien ist eigentlich nur noch ein Spielball der Märkte und zudem ein Opfer der Euro-Krise. Das Vertrauen in die Gemeinschaftswährung bricht weg. Allerdings haben wir uns hierzulande auch die größte Mühe gegeben, mit unserer eigenen Krise so schlecht wie möglich umzugehen. Klar: Auf der einen Seite kann eine wirkliche Stabilisierung der Euro-Zone, eine Rettung des Euro, auch Belgien dabei helfen, seine Probleme zu lösen. Das spricht aber nicht unsere Politiker von aller Verantwortung frei.
Auch Deutschland am Pranger
Le Soir sieht ebenfalls eine Quelle des Übels in der Euro-Krise. Hier trage Deutschland eine historische Schuld. Indem Deutschland sich insbesondere gegen eine größere Rolle für die EZB wehrt, sorgt Berlin dafür, dass ein Land nach dem anderen vor den Märkten in die Knie geht. Ist es ein Zufall, dass das Wort Schuld im Deutschen zwei Bedeutungen hat: Schuld im Sinne von finanziellen Verbindlichkeiten und Schuld im Sinne von sträflicher Verantwortung.
Wobei man zugeben muss: Die Politik hierzulande war viel zu lange mit ihrem eigenen Nabel beschäftigt. Allein schon dadurch, dass man einer Staatsreform Priorität eingeräumt hat. Bei all dem kann man nur jene Menschen loben, die unglaublich 500 Millionen Euro in Staatsanleihen und damit in die Zukunft des Landes investiert haben, meint Le Soir. Diese Leute verdienen eine Auszeichnung.
Bild: belga