Viele Leitartikler reagieren zunehmend irritiert auf die sich hinziehenden Gespräche. So mancher stellt auch die Führungsstärke von Regierungsbildner Elio Di Rupo in Frage.
“Der Haushalt ist eine Schwergeburt“, titelt heute Le Soir. “Wer gibt als Erster nach?“, fragt sich Het Laatste Nieuws auf Seite eins und zeigt dabei die beiden Hauptprotagonisten: Regierungsbildner und PS-Präsident Elio Di Rupo auf der einen und OpenVLD-Chef Alexander De Croo auf der anderen Seite.
Tatsächlich stehen sich Sozialisten und Liberale nach wie vor unversöhnlich gegenüber. Ein Haushalt lässt weiter auf sich warten.
Atmosphäre vergiftet
De Morgen hat offensichtlich Stimmen vom Verhandlungstisch zugetragen bekommen. Darin wird deutlich: Die Atmosphäre ist mitunter äußerst vergiftet. “Der Regierungsbildner ist ein angeschossenes Wild“, fasst es das Blatt in seiner Schlagzeile zusammen. Der Grund: Di Rupo hatte am Mittwoch ein angeblich letztes Angebot unterbreitet. Nach einer halben Stunde war aber klar, dass das so niemand schlucken wollte. Die Glaubwürdigkeit Di Rupos ist damit beschädigt, urteilt ein anonymer Unterhändler in De Morgen.
Langsam aber sicher kann man sich Fragen stellen, konstatiert La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Drei Dinge irritieren. Erstens: Die Verhandlungspartner scheinen nach wie vor nicht dazu gewillt zu sein, einige Tabus fallen zu lassen. Zweitens: Warum muss eigentlich unbedingt nachts verhandelt werden? Und drittens: Es fehlt bei allen Beteiligten die Einsicht, dass es sich um eine kollektive Unternehmung handelt. Es macht keinen Sinn, den jeweils anderen für die Blockade verantwortlich zu machen.
Geldbuße von der EU
523 Tage nach der Wahl ist die Situation wieder einmal verfahren, kann auch La Dernière Heure nur feststellen. Dabei drängt die Zeit, wie De Morgen auf seiner Titelseite hervorhebt: “Europa gibt Belgien noch 28 Tage“, so die Schlagzeile. Tatsächlich hat die EU-Kommission ihre Warnung an Belgien noch einmal bekräftigt: Bis zum 15. Dezember muss Belgien einen Haushalt vorlegen, der zudem vom Parlament abgesegnet sein muss. Ansonsten droht eine Geldbuße von 700 Millionen Euro.
Das ist die Gelbe Karte, poltert dazu Gazet van Antwerpen in ihrem Kommentar. Worauf, in Gottes Namen, wartet Di Rupo, fragt sich inzwischen ganz Europa. Di Rupo verliert immer mehr Zeit mit dem Haushalt, der aller Voraussicht nach nicht fristgerecht vorliegen wird. Die Rote Karte der EU dürfte also folgen. Vielleicht verdient Di Rupo diese Strafe, doch wird das zugleich Belgien in den Kreis von Ländern wie Griechenland oder Italien befördern. Man sollte vielleicht mal nach Alternativen für die PS suchen.
“Di Rupo muss springen“
De Standaard richtet seinerseits einen flammenden Appell an den Regierungsbildner: “Di Rupo muss springen. Das Land braucht jetzt eine Entscheidung, ein Aufschub ist unverantwortlich.“ Di Rupo muss seine Methode ändern, fügt das Blatt in seinem Leitartikel hinzu. Die Technik der “kleinen Schritte“ war vielleicht in puncto Staatsreform von Erfolg gekrönt. Nur sind jetzt Entscheidungen gefragt, bedarf es einer Führungspersönlichkeit. Ist Di Rupo der Mann der Stunde? Ist er bereit zu tun, was er tun muss? Wir brauchen jetzt schnell Antworten auf diese Fragen.
Het Belang van Limburg spricht Di Rupo eben diese Führungsstärke ab. Er hat es bislang nicht geschafft, sich über die Parteien zu stellen. Das ist ein schlechtes Omen für eine Koalition, die ohnehin wider Natur ist. Eine klassische Dreier-Koalition aus Sozialisten, Liberalen und Christdemokraten hat noch nie funktioniert.
Der Haushalt, das wäre ja in der Tat nur der Anfang, meint auch Het Nieuwsblad. Diese Leute wurden ja schließlich nicht gewählt, um zu verhandeln, sondern um zu regieren. Die Frage ist allerdings, wie glaubwürdig eine Regierung ist, die erst nach über 520 Tagen aus der Taufe gehoben wurde. Elio Di Rupo wäre jedenfalls gut beraten, seinen Stil zu ändern. Es steht nämlich zu befürchten, dass, wenn die Regierung einmal ihre Arbeit aufgenommen hat, sie sich in der erstbesten Krise wieder festfährt.
Des Königs Gesundheit
Zumindest ein Problem bleibt den Brüsseler Verhandlungspartnern aber erst einmal erspart, konstatiert Le Soir: Der König kann nach wie vor seine Rolle wahrnehmen. Das ist kein Zynismus. Für die Schlagzeile gibt es einen konkreten Hintergrund: Der König musste sich gestern einem kleinen medizinischen Eingriff unterziehen. Ihm wurde ein Hautkrebsgeschwür an der Nase entfernt. Anscheinend handelt es sich aber um eine nicht sehr aggressive Form von Hautkrebs.
Viele Zeitungen beleuchten die neuerlichen gesundheitlichen Probleme des Staatsoberhauptes. Einige wie Het Laatste Nieuws oder Gazet van Antwerpen bringen gar in großer Aufmachung die gesamte bekannte Krankengeschichte von Albert II.
“Moralisches Fiasko“
Einige Blätter kommen heute noch einmal auf die Pleite der Finanzholding ARCO zurück. ARCO, das ist ja so etwas wie der finanzielle Arm der christlichen Arbeiterbewegung ACW. ARCO ist ein weiteres Opfer des Dexia-Debakels und muss seine drei wichtigsten Unternehmensteile abwickeln. Die rund 800.000 Mitglieder, die im Durchschnitt 2.000 Euro in die Kooperative gesteckt haben, sollen aber entschädigt werden. Hier greift die so genannte Einlagengarantie, die ja für Sparguthaben bis 100.000 Euro gilt.
Für diesen Beschluss, die ARCO-Mitglieder zu entschädigen, steht der amtierende Premier Leterme mächtig unter Druck, wie unter anderem De Standaard und Het Nieuwsblad hervorheben.
Het Laatste Nieuws spricht in seinem Leitartikel von einem moralischen Fiasko. Hier sieht man mal wieder, wer das Land regiert. Nicht die Parteien, sondern die beiden sozioökonomischen Pfeiler, mit Namen die sozialistischen und die christlichen Arbeiterbewegungen. Der PS-Staat regiert die Wallonie. Im Norden lebt der CVP-Staat weiter. Die christliche Arbeiterbewegung tut nichts anderes als ihre Verluste zu sozialisieren und das auf dem Rücken der Steuerzahler. Die Vorzugsbehandlung für die ARCO-Mitglieder wirft zudem einen Schatten auf die Glaubwürdigkeit des belgischen Rechtsstaats. Im vorliegenden Fall gelten offensichtlich für die christliche Arbeiterbewegung andere Regeln. Und das ist bezeichnend.
Bild: Nicolas Maeterlinck (belga)