"Wallonische Region wird ArcelorMittal keine Geschenke machen", titelt heute L'Echo. "Die wallonische Region steht ArcelorMittal machtlos gegenüber", meint ihrerseits La Libre Belgique auf Seite 1.
Beide Schlagzeilen widersprechen sich eigentlich, und doch spiegeln sie die Realität wider. Am Tag zwei nach der Ankündigung der Schließung der Warmstahlproduktion in Lüttich steht eine ganze Region weiter unter Schock.
"Wir werden nicht aufgeben", bringt L'Avenir die Meinung vieler Arbeiter im Lütticher Stahlbecken auf den Punkt. Die Gewerkschaften wollen in jedem Fall Entlassungen mit allen Mitteln verhindern.
Het Laatste Nieuws hebt hervor, dass die Gewerkschaften bislang auf spektakuläre Aktionen verzichtet haben. Irgendwie könnte man meinen, dass auch das Feuer der Metaller ausgegangen ist.
"ArcelorMittal muss bezahlen"
"Schock", "Ohnmacht", diese Begriffe finden sich in vielen Zeitungen wieder. Die wallonische Region wurde kalt erwischt, notiert L'Avenir. Wobei man in Namur offensichtlich fest entschlossen ist, den Stahlkonzern ArcelorMittal nicht so billig davonkommen zu lassen. Um den Standort Lüttich zu erhalten, hatte die wallonische Region ja dem Stahlkonzern quasi den roten Teppich ausgerollt und dabei auch tief in die Tasche gegriffen.
Die Region will sich die Schließung der Warmstahlproduktion in Lüttich teuer bezahlen lassen, notiert dazu La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Die Rede ist hier von einer Summe von einer Milliarde Euro, die für die Sanierung der ausgedienten Industrieanlagen fällig würde. Doch darf man in Namur nicht vergessen: Der Gegner ist mächtig. Ärgert man ArcelorMittal zu sehr, dann könnte der Stahlkonzern als Reaktion darauf weitere seiner Aktivitäten in Belgien aufgeben. Klar: Die Antwort auf den Schritt von ArcelorMittal muss entschlossen sein, ein Sieg könnte aber einen bitteren Nachgeschmack haben.
Die Seite umblättern
Andere Leitartikler plädieren dafür, jetzt resolut nach vorn zu blicken. Besonders deutlich sagt das La Dernière Heure: Es ist Zeit, die Seite umzublättern. Seit Jahren buttert die öffentliche Hand Geld in die Stahlindustrie. Zuletzt 2009, als die Lütticher Hochöfen wieder angefahren wurden. Jetzt wurden wir wieder zwei Jahre zurückkatapultiert. Es wird Zeit, dass Lüttich und die Wallonie auf ein anderes Pferd setzen.
Ähnlich, wenn auch nicht so deutlich formuliert, sieht das Het Nieuwsblad. Warum weigern wir uns immer noch, der Realität ins Auge zu sehen? Man hat sich von der kurzzeitigen Konjunkturerholung, die die Wiedereröffnung der Lütticher Hochöfen ermöglicht hatte, blenden lassen. Man hat sogar versucht, ArcelorMittal über Subventionen an Lüttich zu binden. Man hat es hier aber mit Multinationals zu tun, die eiskalt gewinnorientiert agieren. Deswegen stellt sich die Frage, ob es noch sinnvoll ist, so viel Geld und Energie in den Versuch zu investieren, die Stahl- oder auch die Autoindustrie noch für einen Moment länger in Belgien zu halten.
L'Echo sieht dennoch noch eine Zukunft für den Industriestandort Belgien und insbesondere die Wallonie. Die wallonische Schwerindustrie muss sich schnellstens neu orientieren. Wir brauchen innovative Produkte mit hohem Mehrwert. Das Ende der Warmstahlproduktion sollte zu einem heilsamen Schock werden, dem Startschuss für ein Umdenken in der wallonischen Industrielandschaft.
"Willkommen in der Wirklichkeit"
Einige Blätter betten das Lütticher Drama in einen allgemeineren Kontext ein. "Mittal zündet die soziale Bombe", titelt etwa Le Soir. Demnach bringt das sich ankündigende Drama in Lüttich buchstäblich das Fass zum Überlaufen - und das allgemein. Es droht ein heißer sozialer Herbst, und zwar in vielen Bereichen. In diesem Zusammenhang rechnet Het Laatste Nieuws vor, dass allein innerhalb der letzten sechs Wochen knapp 2.500 Jobs vernichtet wurden. Und L'Echo vervollständigt diese Rechnung: Gerade erst wurde bekannt, dass der Finanzdienstleister Euroclear seinen Firmensitz nach Polen verlegt. Hier sind noch einmal 500 Arbeitsplätze akut gefährdet.
"Willkommen in der Realität", meint denn auch Le Soir in seinem Leitartikel. Belgien ist bislang von dem Sturm, der über Europa fegt, weitgehend verschont geblieben. Während in Griechenland und anderswo die Leute auf die Straße gingen, hat man sich hierzulande monatelang über einen Wahlbezirk gestritten. Dexia, ArcelorMittal: Jetzt werden wir von der Wirklichkeit eingeholt. Und während auf Di Rupo und Co. jetzt viel Arbeit wartet, müssen sich wohl alle Europäer langsam aber sicher die bange Frage stellen, ob wir dazu verdammt sind, zu verarmen.
All die Ereignisse um Dexia und ArcelorMittal kommen für die künftige föderale Regierung jedenfalls zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt, meint L'Avenir. Und Elio Di Rupo könnte die Grünen als potentielle Verbündete auf der linken Seite noch schmerzlich vermissen.
Ohne die Grünen
Mit eben diesem Rauswurf der Grünen beschäftigen sich heute naturgemäß auch viele Zeitungen. "Rausgeflogen nach 487 Tagen", bringt es Het Nieuwsblad auf seiner Titelseite auf den Punkt. Es waren vor allem die flämischen Liberalen der OpenVLD, die partout nicht die Grünen in der Regierung sehen wollten. Inhaltlich ist das nachvollziehbar, meint Het Laatste Nieuws in seinem Leitartikel. Mit den Grünen hätte die Regierung aus Sicht der OpenVLD zu weit links gestanden.
Da gibt es aber vor allem einen entscheidenden Nachteil, wie auch Het Belang van Limburg und Gazet van Antwerpen unterstreichen: Eine Dreiparteienkoalition aus Sozialisten, Christdemokraten und Liberalen hat in Flandern keine Mehrheit. Die Flamen zahlen damit einen hohen Preis, sind sich beide Blätter einig und unterstreichen, dass die letzte Dreiparteienkoalition, die 31 Jahre zurückliegt, nur sechs Monate gehalten hat.
Für La Dernière Heure gibt es derweil im Moment keinen Platz für derlei politische Sandkastenerwägungen. Spätestens das Lütticher Drama zeigt, dass wir jetzt erst recht andere Sorgen haben.
Bild: Eric Lalmand (belga)