"Top-Magistrate üben harsche Kritik an Asylpolitik", titelt heute Het Laatste Nieuws. "Die Einwanderungspolitik bringt den Rechtsstaat ins Wanken", zitiert De Standaard einen der besagten Justizvertreter. Die Kritik stammt von zwei hohen Magistraten der Antwerpener Staatsanwaltschaft.
Zum Auftakt des neuen Justizjahres stellten der Antwerpener Generalprokurator Yves Liégois und auch der Generalanwalt am Arbeitsgerichtshof, Piet Van den Bon, die derzeit praktizierte Asylpolitik an den Pranger.
Man müsse sich dringend die Frage stellen, wie lange Belgien den massiven Ansturm von Asylanten sozial und wirtschaftlich noch verkraften könne, zitiert Het Laatste Nieuws den Generalprokurator.
Das Ende der Demokratie?
Die Behörden hätten die Kontrolle über die Einwanderungspolitik vollends verloren, gibt ihn auch De Standaard wieder. In einigen Großstadtvierteln herrsche eine Kultur des Abkassierens, Betrug aller Art sei die Regel, beklagt Generalanwalt Piet Van den Bon.
Der Staat laufe damit Gefahr, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren und zwar gegenüber denjenigen, die brav ihre Steuer und Abgaben bezahlen. Dass Belgien ein Land sei, in dem Milch und Honig fließen, sei kein Mythos, sondern gefährliche Realität. Und die werde verursacht durch die derzeitige Gesetzgebung, so die Antwerpener Magistrate in Het Laatste Nieuws.
Gazet van Antwerpen stellt ein anderes Zitat in den Vordergrund: "Das Ende unserer Demokratie steht kurz bevor". Das alles ging dem amtierenden Justizminister Stefaan de Clerck am Ende dann doch zu weit: Die Magistrate übten sich in Panikmache, sagt de Clerck unter anderem in Gazet van Antwerpen und Het Nieuwsblad.
Die beiden Antwerpener Magistrate malen tatsächlich ein apokalyptisches Bild der Asyl- und Einwanderungspolitik, konstatiert Het Belang van Limburg in seinem Leitartikel. Die Frage sei erlaubt, ob die hohen Justizvertreter damit nicht zu weit gegangen sind und ihre Kompetenzen überschritten haben. Man muss aber zugeben, dass die Justiz sehr gut platziert ist, um feststellen zu können, ob und wie die Gesetze auf dem Terrain greifen.
Belgien - Ein sozialer Süßigkeitsautomat?
Schlimm genug, wenn am Ende die Magistratur der Politik ihr Unvermögen unter die Nase reiben muss, stellt Het Laatste Nieuws fest. Ganz offensichtlich ist es so, dass Richter näher am Puls der Bürger liegen als die Politik. Anscheinend ist es kinderleicht, über gesetzliche Hintertüren sich Sozialleistungen zu erschleichen. Die Justiz legt den Finger in die Wunde, während die Politik offensichtlich nicht begreift, dass all diese Missstände am Fundament der Demokratie nagen.
Dieses Land ist kein sozialer Süßigkeitsautomat, ereifert sich De Standaard. Auf allen Ebenen herrscht flagranter Missbrauch. Wer weiß, wie es funktioniert, kann in Nullkommanichts beim Sozialamt anklopfen und Hilfen beantragen. Es wird allerhöchste Zeit, dass die Politik die Problematik entschlossen angeht.
Gazet van Antwerpen hat derweil schon einen Schuldigen ausgemacht: Insbesondere die Frankophonen weigern sich nach wie vor beharrlich, in der Einwanderungspolitik und auch in der Sozialgesetzgebung endlich mal andere Saiten aufzuziehen.
Het Nieuwsblad hingegen ist die ganze Diskussion offensichtlich doch ein bisschen unheimlich. Zwar sind die Vorwürfe der Antwerpener Magistrate wohl nicht aus der Luft gegriffen. Doch sollte man Verallgemeinerungen vermeiden. Am Ende wird jeder Einwanderer gleich zum Betrüger gestempelt. Außerdem wird hier mit Anti-Politik geflirtet: Wer so tut, als wolle die Politik grundsätzlich nichts ändern, der macht es sich zu einfach.
De Morgen plädiert seinerseits dafür, der Realität nüchtern ins Auge zu sehen. Einwanderung wird auch in Zukunft ein unvermeidliches Phänomen bleiben. Statt also so zu tun, als gäb's gar keine Migration, sollte man vielmehr schnellstens regulierend tätig werden. Wenn Neuankömmlinge eine faire Chance auf Integration bekommen, dann landen sie erst gar nicht im Untergrund oder bei den Sozialämtern. Und nur dadurch wird die öffentliche Meinung vergiftet.
Bürgerkrieg?
Auch noch eine andere Aussage eines hohen Justizvertreters sorgt für Diskussionsstoff. Der Generalprokurator des Kassationshofes, Jean-Francois Leclercq, warnte sinngemäß vor einem Bürgerkrieg im Falle einer Spaltung des Landes. Wie alle freiheitsliebenden Völker würden nämlich auch die Wallonen einen Anspruch auf einen Zugang zum Meer erheben.
Das Urteil der Leitartikler ist gnadenlos: Diese Aussage ist ein Beweis mehr dafür, wie weltfremd die Hermelinträger doch immer noch sind, meint Gazet van Antwerpen. Het Laatste Nieuws spricht seinerseits von Karneval: Offensichtlich ist die Hitze des ersten Schultages einigen Justizvertretern zu Kopf gestiegen.
Gordische Knoten
Auch der Erste Präsident des Kassationshofes, Ghislain Londers, hatte sich zum Auftakt des neuen Justizjahres an die Politik gewandt. Sein Aufruf: Die Politik sollte endlich die gemeinschaftspolitischen Streitfragen lösen. "Maximaler Druck auf Di Rupo", titelt denn auch heute Le Soir. Kommentierend fügt das Blatt hinzu: Nach den Künstlern und den Gewerkschaften spricht nun also auch die Justiz der Politik ins Gewissen.
Zugleich bleibt Le Soir dabei: Auch die EU will Belgien wegen des innenpolitischen Stillstands an den Pranger stellen. Das diesbezügliche Dementi der EU-Kommission sei lächerlich, meint das Blatt. In jedem Fall hätte die Kommission alles Interesse daran, einzugreifen, bevor Belgien sich auf politische Irrwege begebe.
Apropos Regierungsverhandlungen: Für Elio Di Rupo könnte an diesem Wochenende die Stunde der Wahrheit schlagen. Am Sonntag wollen die acht Parteien offenbar entscheidende Knoten durchschlagen. Oder eben nicht.
Bild: belga