Darin stellt die EU insbesondere die belgische Lohnindex-Bindung in Frage. In Belgien ist damit der Graben zwischen Rechts und Links nur noch tiefer geworden und für viele Leitartikler wird damit die Regierungsbildung nur noch schwieriger.
"Europa setzt den belgischen Index unter Druck", titelt heute Le Soir. Für De Morgen legt die EU gar eine Bombe unter die belgische Regierungsbildung. Und De Standaard hebt auf Seite 1 eine belgische Reaktion hervor: "Di Rupo schickt die EU in die Wüste". Die EU-Kommission hat gestern den 27 EU-Staaten Zeugnisse ausgestellt. Und das Zeugnis für Belgien enthält eine Reihe von Empfehlungen, die im Grunde längst bekannt, aber genauso lang umstritten sind.
Index am Pranger
Im Blickpunkt vor allem: die europäische Kritik an der belgischen Lohn-Index-Bindung, also der automatischen Kopplung der Gehälter an die Preisentwicklung. Es bedürfe einer Reform des Systems, empfiehlt die EU-Kommission. "Reform", das bedeute ja nicht, dass die EU den Index abschießt, bemerkt L'Avenir. Ähnlich äußert sich der belgische EU-Kommissar Karel De Gucht in La Libre Belgique: Die Kommission sage doch nur, dass Belgien in Sachen Lohnentwicklung ein Wettbewerbsproblem habe, so De Gucht.
Nichtsdestotrotz hat das EU-Zeugnis die Bruchstellen zwischen Rechts und Links noch einmal klar offengelegt. Die Reaktionen von PS und N-VA sind Lichtjahre voneinander entfernt, bemerkt etwa De Standaard. "Hände weg vom Index", hieß es postwendend von der PS. Die N-VA, flankiert von der Open-VLD, sieht sich hingegen bestätigt. "Die EU-Empfehlungen klingen wie Musik in meinen Ohren", zitiert De Standaard den N-VA-Spitzenpolitiker Jan Jambon. Der Open-VLD-Haushaltsminister Guy Vanhengel meint süffisant in De Morgen: "Es ist als würde ich das Open-VLD-Programm lesen".
EU braucht Strukturreformen - Belgien damit auch
Fakt ist: Die EU-Empfehlungen haben in den europäischen Hauptstädten und insbesondere in der Brüsseler Rue de la Loi für mächtig Unruhe gesorgt, notiert die Börsenzeitung L'Echo in ihrem Leitartikel. Nur eins muss man festhalten: Die Kommission macht das nicht aus Spaß an der Freude, oder weil man mal eben den belgischen Index anprangern wollte. Der Grundgedanke ist, den Brand in der Euro-Zone zu löschen, die Währungsunion endlich zu Ende zu denken.
Im Grunde konnte sich wohl jeder an den fünf Finger abzählen, was die Kommission da monieren würde, konstatiert Het Belang van Limburg. Die Feststellungen und Empfehlungen sind längst bekannt. Nach jahrelanger Untätigkeit muss man die Probleme nun aber endlich angehen. Das sozialwirtschaftliche Programm der nächsten Regierung ist eigentlich schon fertig. Jetzt braucht man nur noch Parteien, die das ausführen.
Die Empfehlungen sind zwar sehr liberaler Prägung, bemerkt La Libre Belgique, doch muss man zugeben: Belgien braucht unbedingt strukturelle Reformen, mutige und tiefgreifende Reformen. Wer jetzt noch wissentlich eine Regierungsbildung blockiert, der legt absolute Verantwortungslosigkeit an den Tag.
Düstere Aussichten ...
Eben mit Blick auf die Regierungsbildung ist die Lage aber nicht einfacher geworden, glauben viele Leitartikler. Die ersten Reaktionen von PS und N-VA machen Le Soir wütend. Es ist immer das gleiche Spiel. Eine Rating-Agentur droht damit, die belgisch Kreditwürdigkeit herunterzustufen: Nichts passiert. Das Sparvolumen steigt mal eben von 17 auf 22 Milliarden Euro: Kein Mensch rührt sich. Jetzt plädiert die EU für Reformen, die unter anderem unsere Pensionen sichern sollen. Resultat: Die N-VA beleidigt die Sozialisten, die PS beschränkt sich auf eine glatte Ablehnung. Fazit: Anscheinend warten die Parteien auf eine Katastrophe, die dann der Steuerzahler bezahlen darf.
De Standaard hebt vor allem die Reaktion der PS hervor. Mit der Parole: "Hände weg vom Index" würgen die frankophonen Sozialisten jegliche Diskussion von vorneherein ab. Wenn derlei Themen aber für Tabu erklärt werden, dann führt das unweigerlich in einer Sackgasse. Die Reaktion der PS lässt nur einen Schluss zu: Die Sozialisten glauben selbst nicht mehr an eine Einigung und bereiten sich schon auf Neuwahlen im Herbst vor.
Gazet van Antwerpen sieht das genauso. Die PS scheint wohl nicht verstanden zu haben, dass die EU-Empfehlungen verbindlich sind. Stattdessen weigert sie sich, über den Index überhaupt zu reden. So wird das nie funktionieren. Wir können uns getrost auf Neuwahlen einstellen.
Dazu passt auch die Meinung von Finanzminister Didier Reynders, die in Het Nieuwsblad und De Standaard nachzulesen ist. Bis Oktober sollte ein Regierung stehen, meint Reynders, ansonsten gibt es nur zwei Möglichkeiten: einen Notregierung oder Neuwahlen. Reynders stellt damit ein lupenreines Ultimatum, notiert Het Nieuwsblad dazu in seinem Kommentar. Die anderen haben längst verstanden, dass Deadlines nichts bringen. Im Augenblick weisen alle Signale auf Neuwahlen, ein mögliches Abkommen und die Bildung einer neuen Regierung, das ist allenfalls eine theoretische Option.
... oder doch eine Chance?
Dabei wäre es doch so einfach, meint De Morgen betont pragmatisch. Wenn man ehrlich ist: Genau wie in den Dehaene-Jahren nimmt Europa den notorisch untätigen Belgiern die Arbeit ab. Während hierzulande seit Jahren niemand den Mut hat, die bekannten Probleme resolut anzugehen, könnte man sich jetzt eigentlich getrost hinter der EU verstecken, um unpopuläre Reformen auf den Weg zu bringen. In diesem Zusammenhang sollte sich die EU-Kommission aber auch an der eigenen Nase fassen. Wenn es darum geht, den kleinen Bürgern etwa längere Lebensarbeitszeiten oder niedrigere Löhne aufzubrummen, dann kann Brüssel drakonisch sein. Ebenso viel Härte würde man sich auch mit Blick auf die Kontrolle der Finanzmärkte wünschen.
Archivbild: Eric Lalmand (belga)