Auf beiden Seiten der Sprachgrenze macht man den jeweils anderen für die Situation verantwortlich. In einem Punkt sind sich alle einig: Wenn die Lage zuvor schon ernst war, dann ist jetzt womöglich bald eine kritische Grenze überschritten.
"Sackgasse" titelt heute Le Soir. "Wouter Beke hört auf - von einem Ausweg ist man meilenweit entfernt", meint Gazet van Antwerpen auf Seite 1. Für La Libre Belgique "sucht der König nach einem Retter". Und das Urteil von De Morgen ist gnadenlos: "Das Ende der Vernunft", stellt das Blatt in Blockbuchstaben fest.
"Und täglich grüßt das Murmeltier"
Die Schlagzeilen fassen die Situation treffend zusammen Vermittler Wouter Beke hat gestern nach über zweimonatigen Anstrengungen seine Abschlussbericht vorgelegt. Dass es da auch noch eine andere Lesart gibt, illustriert die Schlagzeile des Grenz-Echo: " Wouter Beke schmeißt die Brocken hin". Tatsächlich sind die beiden großen Wahlsieger, PS und N-VA, nach wie vor heillos zerstritten. Im Grunde sind sie sich in keinem Punkt einig.
De Morgen macht auf seiner Titelseite eine vielsagende Rechnung auf: Eine Mission von 71 Tagen, ein Abschlussbericht von acht Zentimetern Dicke, neun Vorschläge zur Spaltung von BHV, sechs Besuche bei König Albert II., macht zusammen: Null Resultat.
Dabei ließ sich Wouter Beke nichts anmerken. Beke glaubt weiter, dass eine Einigung möglich ist, zitiert ihn L'Avenir. In den zehn Wochen bis zur politischen Sommerpause könne eine Einigung gelingen. "Alle Bausteine liegen auf dem Tisch", gibt auch Het Belang van Limburg eine von Bekes Kernaussagen wieder. Jetzt muss man also nur noch ein Gleichgewicht finden, analysiert La Dernière Heure nicht ohne Ironie. Dabei fühlt sich das Blatt an den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" erinnert, in dem ja ein Mann dazu verdammt ist, denselben Tag immer wieder neu zu erleben.
Armer König
Die Kommentare schwanken zwischen nüchterner Analyse und wütender Ernüchterung. Der König ist wirklich zu bedauern, meint etwa Het Laatste Nieuws. Die Situation ist dermaßen verfahren, dass es jetzt schon zu einer Herausforderung geworden ist, einen Nachfolger für Vermittler Wouter Beke zu benennen. Beke hat buchstäblich die Nase voll von den strategischen Spielchen der beiden großen Wahlsieger PS und N-VA. Er wollte das Trauerspiel beenden, jetzt muss der König es richten.
Immerhin hat Beke seine Konsequenzen gezogen, lobt Gazet van Antwerpen. PS und N-VA liegen in nahezu allen Punkten über Kreuz. Die PS will mit neun Parteien verhandeln, die N-VA verlangt, dass jeder auf seiner Seite der Sprachgrenze zunächst eine Koalition zusammenstellt. Damit kann sich die N-VA der beiden linken Parteien SP.A und Groen! entledigen. Verfahrener geht kaum.
Di Rupo am Zug?!
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, konstatiert Het Nieuwsblad. Entweder Di Rupo steigt in den Ring, oder er gibt De Wever das Heft in die Hand. Auf der einen Seite mag Di Rupo gute Gründe haben, der N-VA zu misstrauen auf der andere Seite kann sich ein Anwärter auf den Posten des Premierministers nicht so lange verstecken, bis er glaubt, dass die Voraussetzungen ideal sind. Wer kein Risiko eingehen will, hat auch nicht das Recht, andere daran zu hindern, die Initiative zu ergreifen.
De Standaard geht seinerseits mit Di Rupo hart ins Gericht. Der PS-Chef hat, buchstäblich in letzter Sekunde, urplötzlich Vermittle Wouter Beke mitgeteilt, dass die PS den Vorschlag über ein neues Finanzierungsgesetz doch ablehnt. Wie stellt Di Rupo sich das vor? Erst Beke abschießen, zugleich ein Veto gegen De Wever einlegen, aber selbst auch nicht in den Ring steigen wollen. Damit hat sich der PS-Chef selbst den Schwarzen Peter zugesteckt. Wenn Di Rupo so weitermacht, dann tickt die Bombe unter Belgien mit einem Mal wieder deutlich lauter.
De Wever ist schuld?!
Auf der anderen Seite der Sprachgrenze wird die Schuldfrage ganz anders beantwortet. Da muss man nicht lang überlegen, meint etwa La Dernière Heure, es sind immer dieselben: Bart De Wever und die CD&V. De Wever hat kein Interesse an einem Abkommen, und die einst staatstragende CD&V wagt es nicht, aus dem Windschatten der N-VA zu treten.
Auch für La Libre Belgique trägt De Wever die Hauptschuld an der Dauerblockade. Immer wenn Fortschritte gemacht werden, ändert er seine Strategie. Nachdem er zehn Monate lang immer und immer gepredigt hatte, dass ein institutionelles Abkommen erste Grundvoraussetzung ist, will er jetzt erst über eine Staatsreform diskutieren, wenn eine Koalition gebildet ist. Damit will er insbesondere die SP.A ausbooten. Dass das dem PS-Chef nicht gefällt, ist nachvollziehbar. Aber apropos Di Rupo: Der darf auch nicht darauf warten, dass man ihm den roten Teppich ausrollt, bevor er Verantwortung übernimmt.
Die Frankophonen sind jedenfalls gut beraten, sich nicht auf die Spielchen von De Wever einzulassen, meint auch Le Soir. Nach zehn Monaten vollzieht der N-VA-Chef plötzlich eine 180 Grad-Wende. Jetzt wird es Zeit, dass auch die Frankophonen öffentlich ihre Bedingungen formulieren. Sie haben ausreichend Zugeständnisse gemacht, jetzt müssen sie zeigen, wo ihre Schmerzgrenzen liegen. Wenn De Wever diese Grenzen überschreiten und die Spaltung des Landes betreiben will: Nun gut, zumindest spielt man dann mit offenen Karten.
Was soll das Ganze?
Het Belang van Limburg kann derweil die Diskussion über die künftige Koalition, die ja zu der neuerlichen Blockade geführt hat, nicht wirklich nachvollziehen. Wenn man sich die Situation in der EU anschaut, dann stellt man fest: Ob nun eine links- oder eine rechtsgerichtete Regierung: Die Politik ist ohnehin dieselbe. Man sollte derlei Erwägungen außen vor lassen und endlich richtige Regierungsverhandlungen führen.
De Morgen schließlich hat nach eigener Aussage buchstäblich "die Faxen dicke". Vor einem Jahr hätten wir noch zahllose Seiten vollgeschrieben in einer vergleichbaren Situation - jetzt reicht eine, meint der sichtbar desillusionierte Leitartikler. Die Damen und Herren in der Rue de la Loi wurden gewählt, um ein Land zu regieren. Ihnen sind aber offensichtlich politische Spielchen wichtiger als das Wohlergehen von elf Millionen Bürgern. Das Ganze ist längst auf dem Niveau der Sesamstraße. Das ist keine Antipolitik mehr, von Politik kann eigentlich gar keine Rede mehr sein.
Archivbild: Nicolas Maeterlinck (belga)