Drei Fragen stehen im Mittelpunkt: Welche Folgen hat die Krise schon jetzt? Wer ist es schuld? Und wie soll es weitergehen? Das zweite große Thema ist im wahrsten Sinne des Wortes angenehmer: Wir erleben das wärmste Osterfest seit 60 Jahren.
Genau vor einem Jahr, am 22. April 2010, zogen die flämischen Liberalen Open-VLD den Stecker raus: Weil es keine sichtbaren Fortschritte in der Akte BHV gab, verließ die Open-VLD die Regierung. Premierminister Yves Leterme blieb nur der Rücktritt, der vier Tage später amtlich war. Seither ist das Land ohne reguläre Regierung. Einige Zeitungen wie La Dernière Heure oder La Libre Belgique bringen noch einmal eine ausgiebige Chronologie der Ereignisse der letzten 365 Tage.
"Und sie bewegt sich doch"
Das Thema ist aber auffallend abwesend auf den Titelseiten. Allein Le Soir macht aus der Krise seinen Aufmacher und schreibt in Blockbuchstaben auf Seite 1: "Und sie bewegt sich doch". Das Galilei-Zitat steht für die Feststellung, dass das Land offensichtlich trotz Dauerkrise weiter funktioniert. Trotz aller Unkenrufe: Die belgische EU-Ratspräsidentschaft war ein Erfolg, der Haushalt ist in der Spur und sogar der totgesagte Yves Leterme ist sichtbarer und aktiver denn je.
Kommentierend meint dazu De Standaard, es mag tatsächlich so aussehen, als könne diese politische Grauzone noch ewig währen. Das allerdings ist eine gefährliche Illusion. Dieses Land braucht tiefgreifende strukturelle Reformen. Und wenn auch derzeit alle wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Parameter im grünen Bereich sind, wir werden dieses Jahr des Stillstands später noch cash bezahlen. Zumal man nicht vergessen darf: Wir haben mehr als ein Jahr verloren, die tausend Tagen vor dem Sturz der Regierung waren auch schon von Stillstand geprägt.
Dass das Land offensichtlich nicht so rund dreht wie man glaubt, geht aus der Titelgeschichte von De Morgen hervor. Darin beklagen Spitzenbeamte die teilweise unerträglichen administrativen Hürden, die die laufenden Angelegenheiten mit sich bringen und die das Funktionieren der Verwaltung nur träger machen.
Wer trägt die Schuld?
Fakt ist, konstatiert Gazet van Antwerpen: Nach einem Jahr Krise stehen wir noch nirgendwo. Die Krise ist zum Dauerzustand geworden. Was die Frankophonen 2007 mit ihrer Unnachgiebigkeit gesät haben, das haben sie im letzten Jahr geerntet: Die Flamen, die früher staatsmännisch am Ende doch Zugeständnisse machten, die gibt es nicht mehr.
Het Belang van Limburg sieht noch ausdrücklicher die Schuld bei den Frankophonen. Erst haben sie Leterme 2007 auflaufen lassen, und jetzt versuchen sie wieder dasselbe: Man macht keine Konzessionen und versucht die Sache auszusitzen. Damit erbringen die Frankophonen allerdings nur den Beweis dafür, dass dieses Land inzwischen unregierbar geworden ist.
Für Het Nieuwsblad hingegen ist die Verantwortung kollektiv. Wenn Verhandlungen so lange dauern, und so wenige Ergebnisse liefern, dann ist es unsinnig, auf eine Partei oder eine Person zu zeigen. In zehn Monaten hat wohl jeder schon Anstrengungen gemacht und Chancen verpasst, Lösungen gesucht und neue Probleme geschaffen. Vielleicht trägt niemanden die Schuld an den Desaster, allerdings muss man nuancieren: Die politische Klasse in ihrer Gesamtheit trägt dafür die Verantwortung. Wir brauchen dringend Politiker, die auch in schwierigen Zeiten ihren Job machen.
Boykott
Einige Zeitungen blenden den traurigen Geburtstag des Sturzes der Regierung ausdrücklich beziehungsweise de facto aus. Die sonst innenpolitisch engagierte La Libre Belgique widmet etwa ihren Leitartikel heute der Schändung des geplanten Standorts einer Moschee in Lodelinsart bei Charleroi. L‘Avenir bringt das Kunststück fertig, kein Wort über die politische Krise zu verlieren.
De Morgen nennt dagegen Ross und Reiter auf seiner Titelseite. Das Blatt schreibt in Blockbuchstaben: Ein Jahr ohne Regierung hat zur Folge eine Zeitung ohne Politiker. Tatsächlich ist nicht ein Artikel in De Morgen heute direkt oder indirekt der Innenpolitik gewidmet. In seinem Leitartikel begründet das Blatt seine Haltung: Wir tun das nicht, weil wir Politik für unwichtig halten, sondern weil in den letzten zwölf Monaten definitiv genug gewurstelt und geschwafelt worden ist. Durch das kollektive Versagen der Politik verliert diese mit jedem Tag mehr an Glaubwürdigkeit.
Was jetzt?
Doch wie soll es jetzt weitergehen? Open-VLD-Chef Alexander De Croo, der vor einem Jahr die Krise auslöste, mahnt in einem Interview mit der Wirtschaftszeitung L'Echo jetzt zur Eile: Sollte es vor dem Sommer keine neue Regierung geben, dann könnte die Kreditwürdigkeit Belgiens heruntergestuft werden. Auch CdH-Chefin Jöelle Milquet plädiert in La Libre Belgique dafür, dass man jetzt endlich auf die Zielgerade einbiegt. Auf der einen Seite seien die Fronten zugegebenermaßen noch nie so verhärtet gewesen, auf der anderen Seite müsse man aber auch zugeben, dass man bei der Vorbereitung einer neuen Staatsreform noch nie so weit war.
Het Laatste Nieuws glaubt indes nicht an einen schnellen Ausweg aus der Krise. Die Politik hangelt sich von Ferien zu Ferien: Wouter Beke war für die Osterferien zuständig, jetzt ist man auf der Suche nach jemandem, der die Sommerferien überbrückt.
Le Soir stellt sich bei all dem die Gretchenfrage: Hat dieses Land noch eine Zukunft? Pikantes Detail: Die Hälfte des heutigen Leitartikels ist eine Eins-zu-Eins-Kopie des Kommentars vom 23. April 2010. Schon damals fragte sich das Blatt, ob Belgien noch Sinn macht, wenn Flamen und Frankophone nicht mehr an einer gemeinsamen Zukunft arbeiten wollen. Heute, ein Jahr später, gilt mehr denn je die Maxime: Ohne Kompromiss, kein Land. Ein Ende Belgiens wäre aber gleichbedeutend mit einem Scheitern der Intelligenz und des europäischen Gedankens.
Kaiserwetter
Einige Blätter widmen sich einem buchstäblich viel angenehmeren Thema: Dem Kaiserwetter. Het Belang van Limburg und Het Laatste Nieuws heben auf ihren Titelseiten gleichermaßen hervor, dass wir das wärmste Osterfest seit 60 Jahren erleben. Belgien ist da offenbar mit gemessenen Temperaturen von bis zu 28°C quasi eine Sonnenoase. Wie Het Nieuwsblad auf seiner Titelseite berichtet, sind viele belgische Touristen verfrüht aus dem vermeintlichen Sonnenurlaub in Südeuropa zurückgekehrt. An der Algarve etwa war es nasskalt mit 13°C.
Archivbild: Didier Lebrun (belga)