"Die Gesichter des Zorns", titelt La Libre Belgique. "Gewerkschaften gewinnen ihre Wette", so die Schlagzeile von L'Avenir. "80.000 demonstrieren gegen die Pläne von Arizona, 300 Randalierer missbrauchen den Marsch", heißt es bei Het Belang van Limburg auf Seite eins.
Die Großdemonstration gestern in Brüssel gegen die Reformen der Föderalregierung ist nicht nur das Top-Thema auf den Titelseiten, sondern auch in den Kommentarspalten.
Le Soir fragt: Waren es jetzt 80.000 oder doch 140.000? Niemand weiß das ganz genau. Auf jeden Fall waren es sehr viele. Und niemand weiß auch, wie viele gerne gekommen wären, aber nicht konnten, aus allen möglichen Gründen. Fest steht aber: Die Unzufriedenheit unter den Belgiern ist groß. Deshalb wäre die Regierung auch gut beraten, die Demonstranten ernst zu nehmen. Sicher, die Regierung spiegelt die Mehrheit wider, die sie bei den vergangenen Wahlen bekommen hat. Aber die Unzufriedenen sind mittlerweile so viele, dass sie nicht einfach als unwichtige Minderheit abgetan werden können. Macht die Regierung das trotzdem, setzt sie den gesellschaftlichen Zusammenhang aufs Spiel, behauptet Le Soir.
Blutige Axt
Ganz anders kommentiert Het Belang van Limburg: Die Demonstration wurde von Gewalt überschattet. Und auch, wenn die übergroße Mehrheit damit nichts zu tun hatte, sollten sich auch die friedlich protestierenden Menschen und die Gewerkschaften als Organisatoren fragen, wo Grenzen unnötig überschritten werden. Plakate, auf denen Politiker mit einer blutigen Axt zu sehen sind – ist das noch kreativ? Wenn gerade vergangene Woche ein Terroranschlag auf den Premier vereitelt worden ist? Festzuhalten ist auch: Der wichtigste Grund, warum die Menschen protestieren, sind sie selbst. Das Gemeinwohl hat wohl niemand mehr im Blick. Wer protestiert, sollte auch realistische Lösungen bereithalten. Und die sollten sich nicht darauf beschränken zu sagen: "Holt das Geld woanders her", ärgert sich Het Belang van Limburg.
La Dernière Heure findet: Die Gewalt am Rande der Demo hat alles verdorben. Denn es wäre ja falsch, die Anliegen der großen Mehrheit der Demonstranten nicht ernst zu nehmen. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn sich aus dem Tag gestern ein Dialog zwischen der Regierung und den Vertretern all der Unzufriedenen entwickelt. Das wäre, seitens der Regierung zumindest, ein Zeichen des Respekts, betont La Dernière Heure.
Belgiens Margaret Thatcher?
De Morgen stellt klar: Reformen sind wichtig in unserem Land und es ist gut, dass die Regierung unter Bart De Wever diese Reformen tatkräftig anpackt. Viele Ideen von De Wever sind auch sinnvoll. Etwas gegen die schnell steigende Zahl der Langzeitkranken zu tun, ist wichtig. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist zwar unpopulär, aber nicht unlogisch. Aber Bart De Wever darf nicht vergessen, dass er – anders als sein Vorbild Margaret Thatcher in den 1980er Jahren in Großbritannien – nicht mit einer rein konservativen Mehrheit regiert. Nur die Mittelschicht zu belasten und nicht auch die Privilegien der Reichen kräftig zu kürzen, geht nicht. Sonst bleibt der Zorn des Volkes gerechtfertigt, meint De Morgen.
L'Echo wägt ab: Ja, es war ein großer Protest und man kann den Ärger der Menschen verstehen, denn in Belgien ist mittlerweile alles so kompliziert, dass man nur noch mit Misstrauen auf denjenigen schaut, der etwas ändern möchte. Aber De Wever und seine Regierung haben Recht: Große Reformen sind unbedingt notwendig. Sie müssen viel mehr Klarheit als heute bringen, leicht zu verstehen und gerecht sein. Eine Mammutaufgabe, die aber unbedingt notwendig ist, unterstreicht L'Echo.
Frankreich kein Vorbild
Ähnlich sieht das La Libre Belgique: Menschen brauchen Visionen, um Lust auf die Zukunft zu bekommen. Es ist Aufgabe der Regierung, diese Visionen zu entwerfen. Dann kann eine Regierung es auch schaffen, die Menschen mitzunehmen auf den Weg dorthin. Die Regierung De Wever versäumt es zurzeit, diese Visionen zu benennen. Sie verliert sich in Einzelmaßnahmen, streitet sich über kleine Details, kommuniziert nicht klar und deutlich. So wird die Regierung die Unzufriedenen von gestern nicht für sich gewinnen, weiß La Libre Belgique.
De Tijd blickt nach Frankreich und warnt: Wir müssen unbedingt verhindern, dass es auch bei uns so weit kommt wie in Frankreich. Dort hat die Spaltung der Gesellschaft zu einer politischen Parteienlandschaft geführt, die ein Regieren und damit Reformen unmöglich macht. Bei uns ist es noch nicht so weit. Die aktuelle Regierung hat eine deutliche Mehrheit bei den letzten Wahlen bekommen. Sie muss Reformen jetzt unbedingt verwirklichen, damit es in Belgien anders läuft als in Frankreich, mahnt De Tijd.
Kay Wagner