"Brüssel in Rot für Gaza", titelt Le Soir. "Tausende zeigen Israels Regierung die rote Karte", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins. "Demonstranten ziehen eine 'rote Linie' – Zehntausende fordern ein härteres Vorgehen gegen Israel", so die Schlagzeile von De Standaard. "100.000 Demonstranten für Gaza", schreibt lapidar La Dernière Heure.
Die Polizei hat zwar nur 70.000 Teilnehmer gezählt, doch haben die gestern in Brüssel auch schon ein Zeichen gesetzt. Die Mobilisierung für die leidende Zivilbevölkerung ist also nach wie vor ungebrochen, und das trotz der Tatsache, dass sich die Föderalregierung schon auf eine härtere Reaktion auf das israelische Vorgehen verständigt hatte. Aber: "Nein, das Gaza-Abkommen reicht den Demonstranten nicht", konstatiert Het Nieuwsblad auf Seite eins.
Gaza kann zum Wahlkampfthema werden
De Standaard kommt in seinem Leitartikel zu demselben Schluss. Wochenlang hat die Arizona-Koalition um einen gemeinsamen Standpunkt zur Gaza-Krise und zum Umgang mit Israel gerungen. Das Ergebnis kann den Volkszorn über das Unrecht in Gaza aber offensichtlich nicht besänftigen. Aus Sicht der Regierung muss sich das paradox anfühlen. Durch ihr Gaza-Abkommen reiht sich Belgien nämlich international in die Gruppe der Israel-kritische Staaten ein. Bester Beweis sind die Schimpf-Tiraden des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gegen Premier Bart De Wever. Im Inland dagegen herrscht augenscheinlich ein anderes Bild vor. Bei den 70.000 Demonstranten in Brüssel scheint immer noch der Eindruck vorzuherrschen, dass die Regierung zu spät reagiert hat und Israel weiter nicht hart genug anpackt. Fakt ist: Mit jedem Kriegsverbrechen, das Israel der ohnehin schon langen Liste von Gräueltaten im Gaza-Streifen hinzufügt, wächst die Sympathie für das palästinensische Volk. Je unbarmherziger Israel vorgeht, desto höher steigt das Thema auf der politischen Agenda. Gaza kann früher oder später zu einem wirklichen Wahlkampfthema werden.
Teilnahme an Demo als Ventil
Gazet van Antwerpen dämpft aber erstmal die Erwartungen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Regierung De Wever noch weiter geht. Zu lange hat man schon um das aktuelle Abkommen gerungen, mehr war definitiv nicht drin. Außerdem warten jetzt die enorm schwierigen Haushaltsberatungen, die die Koalition auf eine wirklich harte Probe stellen dürften. Im Grunde sind sich dessen wohl auch viele der Demonstranten bewusst. Für sie ging es bei der gestrigen Kundgebung nicht primär um konkrete Forderungen an die Adresse der politisch Verantwortlichen. So mancher wollte wohl einfach nur seine Betroffenheit und Bestürzung über den Gaza-Krieg und das himmelschreiende Leid der Zivilbevölkerung zum Ausdruck bringen. Und vor allem ist da dieses Gefühl der Ohnmacht: Wir sehen alle, dass die autoritären Regime auf dieser Welt mehr und mehr den Ton angeben, von China über Russland bis hin zu den Vereinigten Staaten. Eben mit dem Segen der USA setzt Netanjahu im Augenblick einfach ungehindert seine Politik der Zerstörung fort; aller Proteste und Sanktionen zum Trotz wird Gaza weiter dem Erdboden gleichgemacht. Angesichts dieser schreienden Ungerechtigkeit ist die Teilnahme an einer Demo manchmal einfach nur ein Ventil.
Le Soir sieht das ähnlich. Viele verspüren ein unbändiges Bedürfnis, angesichts der schrecklichen Bilder und des Horrors im Gaza-Streifen "irgendwas" zu tun: zu demonstrieren, zu schreiben, zu dokumentieren, und das schlichtweg, um nicht verrückt zu werden. Es geht auch darum, in irgendeiner Weise sein Gewissen zu beruhigen. Denn welche Antwort werden wir eines Tages geben, wenn uns die palästinensischen und auch unsere eigenen Kinder fragen, warum wir dieses Massaker nicht gestoppt haben.
Das "ruhmlose Ende einer politischen Laufbahn"
Zweites großes Thema ist der Rücktritt von Pieter De Crem als Bürgermeister im ostflämischen Aalter. "Ein Audit-Bericht drückt De Crem Richtung Ausgang", titelt etwa De Morgen. Besagtes Gutachten hatte bestätigt, dass in der Gemeinde tatsächlich ausländisch stämmige Menschen konsequent und systematisch diskriminiert wurden: Sie mussten bis zu neunmal länger auf eine Eintragung ins örtliche Melderegister warten als Personen mit belgischer Staatsbürgerschaft. Als Reaktion auf den Bericht zog der Ex-Verteidigungsminister seine Konsequenzen: "Rücktritt ohne Entschuldigung", so die Schlagzeile von Het Laatste Nieuws. Gazet van Antwerpen spricht vom "ruhmlosen Ende der politischen Laufbahn von Pieter De Crem".
Für "war on drugs" ist das Militär nicht zuständig
De Morgen schließlich beschäftigt sich mit den Plänen des föderalen Innenministers Bernard Quintin, der ja im Kampf gegen die Drogenkriminalität Soldaten in den Straßen der Hauptstadt einsetzen will. "Welch ein Kontrast!", meint das Blatt. In Amerika gehen viele zu Recht auf die Barrikaden, nachdem US-Präsident Trump angekündigt hat, mit seinem frisch gebackenen "Kriegsministerium" Soldaten nach Chicago zu entsenden. Hierzulande bleibt es angesichts ähnlicher Pläne dagegen auffallend ruhig. Dabei wollen Quintin und auch Verteidigungsminister Theo Francken die Soldaten nicht nur für statische Bewachungsmissionen einsetzen, sondern ihnen auch eine aktive Rolle geben. Geht es nach Francken, dann soll das Militär auch "Leibesvisitationen, Identitätskontrollen und Festnahmen" durchführen können. In einem Rechtsstaat wird damit definitiv eine rote Linie überschritten. Gerade mit Blick auf den Handlungsspielraum stellt sich noch eine viel wichtigere Frage: Werden die Soldaten auch das Feuer auf bewaffnete Drogenkriminelle eröffnen dürfen? Hierdurch würde die Zahl der potenziell tödlichen Querschläger nochmal deutlich multipliziert. Das alles nur, um zu sagen: Kriminalitätsbekämpfung ist und bleibt Sache der Polizei– und Justizbehörden. Sie muss man stärken, ihnen muss man die Mittel und Instrumente an die Hand geben, um das Drogenproblem in den Griff zu bekommen. Und den Soldaten sollte man die Aufgaben überlassen, für die sie ausgebildet sind, und dazu zählt nun mal nicht ein "war on drugs" in Wohnvierteln. An der Ostgrenze Europas wartet genug Arbeit.
Roger Pint