"Die Regierung De Wever ist mehr denn je gespalten über Gaza", titelt De Morgen. "Rousseau und Bouchez befeuern den Gaza-Streit", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins. "Gaza bringt die Regierung De Wever in gefährliche Gewässer", so die Schlagzeile von Gazet van Antwerpen.
Die flämischen Sozialisten Vooruit und die frankophonen Liberalen MR haben sich gestern wieder in die Wolle gekriegt. Vooruit-Chef Conner Rousseau fordert weiter Sanktionen gegen Israel und drohte indirekt damit, dass seine Partei notfalls mit der Opposition stimmen könnte. Dies sogar auf die Gefahr hin, die Regierung in eine Krise zu stürzen, sagte Rousseau. "Jeder Beginn einer Wechselmehrheit wäre das Ende der Regierung", reagierte prompt der MR-Chef Georges-Louis Bouchez. "Es droht eine Regierungskrise über den Gaza-Krieg", so denn auch die alarmierte Schlagzeile von Het Laatste Nieuws. Für Het Nieuwsblad ist es schon so weit: "Jetzt ist es wirklich eine Regierungskrise", schreibt das Blatt. "Die Arizona-Koalition steht am Rande der Implosion", so formuliert es La Dernière Heure.
Kein fauler Kompromiss der Föderalregierung!
Der Streit um den Umgang mit der Gaza-Krise hält die Föderalregierung schon seit Monaten gefangen, beklagt De Standaard in seinem Leitartikel. Und in einem Punkt hat MR-Chef Bouchez recht: Wir sehen hier derzeit einen regelrechten Überbietungswettlauf, bei dem jeder möglichst prägnant seine Emotionen angesichts der katastrophalen Lage im Gaza-Streifen zum Ausdruck bringen will. Vooruit-Chef Conner Rousseau hat jetzt aber einen Gang höher geschaltet und mit einer Regierungskrise gedroht. Wenn es vielleicht auch nicht so weit kommt, so besteht doch die Gefahr, dass die Föderalregierung handlungsunfähig wird. Da gibt es nur einen Ausweg: Premier Bart De Wever muss mit seinen Partnern einen gemeinsamen Standpunkt formulieren. Dafür wird er vor allem MR-Chef Georges-Louis Bouchez überzeugen müssen. Anderenfalls droht die Blockade.
L'Avenir sieht das ähnlich. Auf den ersten Blick mag der Streit zwischen Rousseau und Bouchez wie eine der vielen Sandkastenquerelen anmuten, an die uns die Politik längst gewöhnt hat. "Das war ich nicht! Der andere ist schuld", so könnte man das gestrige Scharmützel zusammenfassen. Und, weil das Ganze mitten im Sommerloch stattfand, könnte man es eigentlich als bloße Effekthascherei müde weglächeln, wenn der Gegenstand der Auseinandersetzung nicht so tragisch wäre. In diesem Streit steckt allerdings mehr, das Spaltungspotential ist real. Die Föderalregierung wird sich positionieren müssen. In der Hoffnung, dass dabei kein fauler Kompromiss herauskommt.
"Die Regierung muss gemeinsam sprechen oder schweigen"
"Die Föderalregierung steuert in der Gaza-Frage sehenden Auges auf eine Zerreißprobe zu – und keiner scheint das Steuer übernehmen zu wollen", giftet das GrenzEcho in einem wütenden Kommentar. Wir sehen hier eine realpolitische Bankrotterklärung. Die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen ist nicht zu leugnen. Doch statt eine klare, abgestimmte Linie zu finden, verliert sich die Regierung in innenpolitischen Grabenkämpfen. Beide, Rousseau und Bouchez, geben sich prinzipientreu. Doch in Wahrheit gefährden die Parteichefs nicht nur den belgischen Beitrag zu einer humanitären Antwort, sondern auch die Stabilität der Regierung. Und sie riskieren damit auch, das mühsam aufgebaute Fundament der Koalition zu zerbröseln. Verantwortung übernehmen, das heißt jetzt: Handlungsfähigkeit sichern. Belgien braucht eine Regierung, die gemeinsam spricht – oder wenigstens gemeinsam schweigt.
Aber vielleicht kann der neuerliche Fieberschub doch Bewegung in die Diskussion bringen, meint Het Nieuwsblad. Nehmen wir mal an, die Regierung würde tatsächlich an der Gaza-Krise zerbrechen, dann wären nämlich N-VA und MR die größten Verlierer. Denn prinzipiell hat Rousseau eigentlich recht. Es kann nicht sein, dass Israel weiter ungestört die Palästinenser terrorisieren darf. Während bei der N-VA tatsächlich ein Umdenken eingesetzt zu haben scheint, will MR-Chef Bouchez aber nicht von seinem Standpunkt abrücken. Das hat damit zu tun, dass er offensichtlich ein neues politisches Vorbild hat, nämlich Donald Trump. Bouchez kopiert sogar dessen zynische wirtschaftliche Logik: Wenn Europa oder Belgien Sanktionen verhängt, dann nehmen die Amerikaner einfach deren Platz ein. Das ist eine Argumentation aus dem 18. Jahrhundert. Solange der MR-Chef bei dieser Linie bleibt, wird die Regierung vielleicht nicht in Gaza stranden, wohl aber versanden.
Butter bei die Fische!
Gazet van Antwerpen scheint das Ganze für Theaterdonner zu halten. Mal ehrlich: Kein einziges westliches Land hat bis dato Sanktionen gegen Israel verhängt. Und Belgien muss da jetzt auch nicht vorpreschen. Im Augenblick ist viel Bewegung auf der Weltbühne. In den nächsten Wochen werden sich vermutlich Koalitionen von Ländern bilden, die den Druck auf die Regierung Netanjahu erhöhen werden. Belgien könnte sich dem anschließen. Dafür braucht Rousseau keine Wechselmehrheit, und Bouchez muss von seiner kompromisslosen Haltung abrücken. Was wir hier sehen, das sind also die üblichen Positionierungen der Parteien, bevor sie dann doch Kompromisse eingehen. In dieser Geschichte haben beide irgendwo recht: Rousseau mit seiner Forderung nach einem gemeinsamen Regierungsstandpunkt; und Bouchez, wenn er sagt, dass Belgien nicht im Alleingang agieren muss.
Es wird Zeit, dass alle Akteure die Karten auf den Tisch legen, findet Het Laatste Nieuws. Ist Conner Rousseau wirklich bereit, eine Regierungskrise zu riskieren? Er selbst hatte ja schon seinen Standpunkt abgeschwächt. Was ist seine Drohung dann noch wert? Wird CD&V-Chef Sammy Mahdi wirklich die Haushaltsberatungen blockieren, wie er es unlängst angedroht hat? Und wie wird sich die N-VA positionieren? Die Nationalisten haben zuletzt in sozialen Netzwerken ihre Empörung über die Lage im Gazastreifen zum Ausdruck gebracht und ein Ende des Krieges gefordert. Wenn man in einer Regierung sitzt, muss man aber irgendwann auch Taten folgen lassen; ansonsten ist das zu billig. Deswegen der Appell an alle Beteiligten: Genug gerufen, Butter bei die Fische!
Roger Pint