"Die politische Zukunft von Marine Le Pen ist offen", schreibt L'Avenir auf Seite eins. "Die Verurteilung von Marine Le Pen mischt mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen von 2027 die Karten neu", so die Schlagzeile von La Libre Belgique und L'Echo. La Dernière Heure spricht von einem "politischen Erdbeben".
Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen ist gestern wegen der Veruntreuung von EU-Geldern verurteilt worden. Das Urteil beinhaltet unter anderem, dass ihr für fünf Jahre das passive Wahlrecht entzogen wird. Sie darf also bei der nächsten französischen Präsidentschaftswahl 2027 nicht antreten. "Le Pen kann nicht Präsidentin werden", notiert denn auch Het Laatste Nieuws auf Seite eins. Das Urteil wird selbst bei der politischen Konkurrenz mit gemischten Gefühlen aufgenommen. "Nicht viele Gegner jubeln nach der Verurteilung von Marine Le Pen", titelt auch De Standaard. Denn jetzt kann sich der rechtsextreme Rassemblement National als Opfer darstellen.
"Dass Marine Le Pen jetzt in die Rolle der Märtyrerin schlüpft, das ist freilich nicht überraschend", meint De Standaard in seinem Leitartikel. Auch ihre internationalen Freunde tun ihr Bestes: Die Herren Salvini, Wilders, Orban und sogar Putin sprangen der französischen Rechtspopulistin gleich zur Seite. Dabei könnte man fast vergessen, worum es bei dem Prozess eigentlich ging. Nochmal zum Mitschreiben: Unter der Leitung von Le Pen hat der Rassemblement National ein System organisiert, wodurch EU-Gelder abgezweigt wurden. Steuergelder, die zur Bezahlung von Mitarbeitern im europäischen Parlament dienen sollten, wurden mehr als zehn Jahre lang über fiktive Mitarbeiter ins Parteihauptquartier in der Nähe von Paris geschleust. Angesichts der Schwere des Vergehens fällt das Urteil eigentlich noch mild aus. Die Justiz und auch die Medien sollten den Bürgern genau das jetzt auch nüchtern und präzise darlegen. Vor dem Gesetz sind alle gleich.
Ein funktionierender Rechtsstaat
Hier geht es nicht um Kleingeld, und all das war auch kein tragischer Irrtum, betont auch De Morgen. 4,6 Millionen Euro haben Le Pen und Co. veruntreut. Und das Ganze war fein säuberlich eingefädelt. Und doch sprechen der Rassemblement National und seine Unterstützer von einem "politischen Prozess". Stellen wir mal die Gegenfrage: Müsste man nicht im Falle eines Freispruchs von einem "politischen Urteil" sprechen? Ungeachtet der Beweislast, aus Angst vor politischen Folgen, hätte die Justiz also beide Augen zudrücken sollen? Weil Le Pen einfach zu groß wäre, um sie zu verurteilen? Die Richter haben eben keine politischen Erwägungen in die Waagschale gelegt. Von einem "außergewöhnlich scharfen" Urteil zu sprechen, ist auch merkwürdig. Erst recht, wenn dieser Vorwurf von einer Partei kommt, für die Strafen nie schwer genug sein können und die eigentlich für Nulltoleranz steht. Das hindert Marine Le Pen freilich nicht daran, jetzt in die Rolle der Märtyrerin zu schlüpfen. Dennoch sollten wir uns jetzt nicht Komplexe einreden lassen von den Putins und Orbans dieser Welt. In einem echten Rechtsstaat stehen auch populäre Politiker nicht über dem Gesetz.
"Das Urteil ist der Beweis für einen funktionierenden Rechtsstaat", ist auch Le Soir überzeugt. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn Marine Le Pen an der Wahlurne geschlagen worden wäre. Angesichts des Urteils von einer Missachtung der Demokratie zu sprechen, das geht aber entschieden zu weit. Die Beweise sind erdrückend. Und die Arroganz, mit der die Verteidigung von Le Pen aufgetreten ist, war nicht hilfreich, ebenso wenig wie die Weigerung der Angeklagten, auch nur ein Fünkchen Einsicht zu zeigen. Das Strafgericht konnte gar nicht anders, als sie zu verurteilen. Oder gilt die vom Rassemblement National gepredigte Nulltoleranz nur für die anderen? Ungeachtet der möglichen Folgen des Urteils hat das Gericht seine Unabhängigkeit unter Beweis gestellt.
Märtyrerrolle auf dem Silbertablett serviert
Das alles mag noch so richtig sein, es bleibt dennoch ein fader Beigeschmack, meint das GrenzEcho. Nicht wegen des Urteils an sich, sondern eben wegen seiner Wirkung. Die Demokratie und der Rechtsstaat mögen gesiegt haben. Aber auf einem Spielfeld, das viele als schief empfinden. Und darin liegt die eigentliche Gefahr. Denn das Urteil fällt in einem Moment, in dem das Vertrauen in den politischen Prozess ohnehin schon brüchig ist. Marine Le Pen mag aus dem Rennen sein. Der Kampf um Frankreichs Demokratie ist aber längst nicht gewonnen.
Het Laatste Nieuws sieht das ähnlich. So oder so wird die extreme Rechte das Urteil als politisch motiviert hinstellen. Und dann mag das noch so lächerliche Züge annehmen, etwa dann, wenn der Kreml hier eine Missachtung demokratischer Normen erkannt haben will. Ausgerechnet der Kreml! In Russland landen Oppositionelle im Gefängnis oder sogar in einem Straflager in Sibirien. Dennoch wurde die Märtyrerrolle Marine Le Pen auf einem Silbertablett serviert.
Ein "Opfer des Systems"?
Wenn man genauer hinschaut, dann birgt das Urteil gegen Le Pen für den Rassemblement National vor allem Chancen, analysiert La Libre Belgique. Erstens: Die Partei hat noch zwei Jahre Zeit, um sich neu aufzustellen. Damit verbunden, zweitens: Jetzt hat der RN die einmalige Gelegenheit, die jahrzehntelange Dominanz der Familie Le Pen abzustreifen und diese Seite umzublättern. Und drittens: Das Urteil fügt sich exakt in das Narrativ der extremen Rechten in der ganzen Welt ein, vom Kreml bis zu Elon Musk, die ja alle den Demokratien vorwerfen, ihre Gegner über die Justiz zum Schweigen zu bringen.
Für Demokraten gibt es keinen Grund zur Freude, glaubt denn auch L'Avenir. In Frankreich läuft die Lügenmaschine schon auf Hochtouren. Die rechte Presse spricht bereits von einer "Schande", einem "demokratischem Desaster", einem "politischen Prozess". Natürlich gibt es in jedem Land den einen oder die andere Magistratin, die allzu geschwätzig sind und keinen Hehl aus ihren politischen Überzeugungen machen. Derlei Attacken sind dennoch nicht zu rechtfertigen. Le Pen will jetzt ein Register ziehen, dass auch schon Donald Trump zum Erfolg verholfen hat, der sich ja auch als Opfer des Systems verkauft hat. Für Frankreich verheißt das nichts Gutes.
Roger Pint