"Der Überlebens-Kit, um 72 Stunden durchhalten zu können", titeln La Dernière Heure und L'Avenir. "Die Europäer müssen auf alles vorbereitet sein, inklusive das Unerwartete", zitiert La Libre Belgique die belgische EU-Kommissarin für Krisenschutz, Hadja Lahbib. "Europa muss sich auf das Unvorstellbare vorbereiten", sagt Lahbib auf Seite eins von L'Echo.
Die EU-Kommission hat ihre Strategie vorgestellt, mit der sich Europa auf den Krisenfall vorbereiten soll. Da geht es zunächst um die Koordination unter Mitgliedsstaaten. Zugleich werden die Bürger dazu ermuntert, sich auch individuell für den "Fall der Fälle" zu wappnen. Die EU-Kommission hat bei ihrer Vorstellung kein spezielles Szenario hervorgehoben. Zwischen den Zeilen schwingt hier aber auch die aktuelle Bedrohungslage mit.
"Vorbereitung ist die Mutter der Porzellankiste", analysiert L'Avenir mit einem originellen Wortspiel. Denn in der Tat: Die letzten Jahre haben ein ums andere Mal gezeigt, wie verletzbar Europa sein kann. Die Pandemie, der Ukraine-Krieg, die Klimakatastrophen: Längst sollten die Europäer bemerkt haben, dass sie auf eine handfeste Krise nicht wirklich vorbereitet sind. Und genau diese Feststellung ist der Ausgangspunkt für die EU-Initiative. Die Botschaft: Reparieren ist teurer als Vorbeugen. Der Feind ist nicht die Katastrophe selbst, sondern die Panik derer, die sich nicht gewappnet haben. Die EU appelliert also schlicht und einfach an das Verantwortungsbewusstsein der Menschen.
Resilienz bis hin zum Kühlschrank
Für die Skandinavier ist das nichts Neues, bemerkt De Tijd. In Schweden und Finnland haben die Behörden die Bürger sogar schon vor einem möglicherweise bevorstehenden Krieg gewarnt. Für uns in Belgien fühlt sich das demgegenüber vielleicht etwas seltsam an. In jedem Fall wird uns damit noch einmal vor Augen geführt, wie sehr sich die Welt in den letzten Jahren verändert hat. Hier bedarf es nicht mehr und nicht weniger als einer Mentalitätsveränderung. Und vor diesem Hintergrund ist der Vorstoß der EU-Kommission mit Sicherheit nicht falsch. Es muss ja nicht gleich Krieg sein. Was, wenn ein Cyberangriff unsere Banken oder das Zahlungssystem lahmlegt? Was, wenn unsere Stromnetze sabotiert werden? Diese Fragen zeigen, dass es heute nicht nur um zusätzliche Rüstungsgüter geht, sondern dass Resilienz quer durch die Gesellschaft geht bis hin zum heimischen Kühlschrank.
Einige Leitartikler sind da ganz anderer Meinung. Steigerung der Resilienz und Widerstandsfähigkeit, schön und gut, meint etwa La Dernière Heure. Aber ist der Preis nicht ein bisschen zu hoch? Hat man sich in Brüssel mal die Frage gestellt, welchen Effekt eine solche Initiative auf die Menschen hat, insbesondere die Ängstlicheren unter ihnen? Unter dem Deckmäntelchen der Prävention werden hier noch zusätzliche Ängste geschürt. Nur zur Erinnerung: Europa befindet sich nicht im Krieg.
Erschreckende Kurzsichtigkeit: "Wer hätte das gedacht?"
Het Nieuwsblad sieht das ähnlich. Die EU sagt mit keinem Wort, wogegen genau wir uns wappnen sollen. Warum müssen wir plötzlich "vorbereiteter" sein als etwa noch vor zwei Jahren? Ist es wegen eines möglichen Cyberangriffs auf strategische Infrastruktur? Ist es wegen einer anstehenden Überschwemmung? Oder doch wegen Putin? Zwischen diesen Szenarien gibt es doch erhebliche Unterschiede. Wenn man den Menschen nicht ernsthaft sagt, warum sie ein Überlebens-Kit vorbereiten sollen, dann schürt das allenfalls die verständlichen und schon bestehenden Ängste. Und das ist kontraproduktiv. Die Einzigen, die davon profitieren, das sind die Verkäufer von teuren Survival-Kits und von Antidepressiva.
Der Vorstoß der EU-Kommission ist richtig, lobt dagegen L'Echo in seinem Leitartikel. Die Einen mögen es lächerlich finden, andere werden den EU-Verantwortlichen wohl Panikmache vorwerfen, aber die Botschaft entbehrt doch beileibe nicht jeder Grundlage. Es genügt ein Blick in die jüngere Vergangenheit: Verheerende Überschwemmungen und Waldbrände, die Pandemie, die Energiekrise, …jedem muss doch klar sein, dass die Frequenz größerer Katastrophen oder Krisen zugenommen hat. Allein der Klimawandel mit seinen Auswirkungen, die zum größten Teil vorhersehbar sind, rechtfertigt die Initiative der EU-Kommission.
Bislang glänzten politisch Verantwortliche häufig mit erschreckender Kurzsichtigkeit. "Wer hätte gedacht, dass der Krieg in der Ukraine eine Energiekrise auslösen würde?"; "Wer konnte ahnen, dass wir unseren Verteidigungsetat in solchem Maße anheben müssen?", das sind Zitate, die nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern die man noch in diesen Tagen hört. "Wer hätte das gedacht?", mit ihrem Vorstoß sorgt die EU-Kommission dafür, dass man solche Fragen bald nicht mehr hört.
Stärkste Schultern = größter Beitrag?
Einige Zeitungen kommentieren auch einmal mehr die Rentenpläne der Arizona-Regierung. De Morgen etwa plädiert für Nachsicht gegenüber den wirklich schweren Berufen. Es gibt in dieser Gesellschaft die sogenannte Gesundheitskluft. Grob zusammengefasst: Gut ausgebildete Besserverdienende leben im Durchschnitt zehn Jahre länger. Diese Feststellung sollte in die Überlegungen über eine Rentenreform mit einfließen. Unter anderem Lehrkräfte und Beamte müssen einsehen, dass ihre Arbeit nicht in dem Sinne "schwer" ist wie die von Pflegekräften oder Bauarbeitern.
Het Laatste Nieuws macht eine ähnliche Überlegung. Warum laufen die Gewerkschaften jetzt Sturm gegen die Idee, hohe Pensionen über 5.000 Euro brutto bis auf Weiteres nicht mehr zu indexieren? Hatten sie nicht gefordert, dass die stärksten Schultern den größten Beitrag leisten? Die Arbeitnehmerorganisationen sprechen jetzt wütend von "Vertragsbruch". Aber, wenn man die Regeln nicht mehr ändern und den aktuellen Gegebenheiten anpassen darf, dann braucht man eigentlich keine Wahlen mehr.
Roger Pint