"Regierungsbildung: Keine Einigung in Brüssel", meldet das GrenzEcho. "Zum ersten Mal niemand mehr da, um die Verhandlungen in Brüssel zu führen", resümiert Le Soir. "Brüsseler Regierungsbildung steuerlos nach neuem Fiasko", schreibt De Standaard. "Brüsseler Geiselhaft: 278 Tage", klagt La Libre Belgique an. "Die sieben Parteien sehen sich Mittwoch wieder, um die Diskussionen wiederaufzunehmen", kündigt L'Echo an.
Leerlauf, angezogene Handbremse, leerer Tank und zerstochene Reifen – neun Monate nach den Wahlen vom 9. Juni steht Brüssel immer noch auf dem Parkplatz der politischen Verantwortungslosigkeit, ätzt La Dernière Heure in ihrem Leitartikel. Der Weisheit letzter Schluss nach vielen Sondierungsgesprächen der Informatoren von Groen und Les Engagés: Der einzige Weg ist eine Koalition aus sieben Parteien. MR, Les Engagés und PS auf frankophoner Seite und Groen, Vooruit, CD&V und Open VLD auf flämischer.
Das Problem: Die Open VLD will nicht ohne die N-VA. Und gegen die sperrt sich ja hartnäckig der Brüsseler PS-Chef Ahmed Laaouej. Ergebnis: Die Open VLD mit ihren 18.000 Stimmen blockiert die Hauptstadt, während die Pleitegeier schon kreisen. Welche andere Region würde es dulden, dass ihre Politiker Däumchen drehen, während das Haus in Flammen steht, fragt La Dernière Heure.
Die Quintessenz der Malaise der belgischen Politik
De Standaard sieht derweil vor allem die frankophonen Sozialisten in der Pflicht: Wie kann man die PS unter Druck setzen, damit sie ihr Veto gegen die N-VA aufgibt? Das ist die Frage, mit der sich die Informatoren stärker hätten beschäftigen müssen. Die PS hat die Wahlen verloren. Darüber hinaus ist die Partei maßgeblich verantwortlich für die Brüsseler Misswirtschaft der vergangenen 20 Jahre. Und dennoch verhält sich ihr Vorsitzender Ahmed Laaouej wie ein Pascha, der autoritär die Karten mischt.
Offensichtlich (und wie es das Sprichwort sagt) muss es erst noch schlimmer werden, bevor es besser werden kann. Das gilt insbesondere für Brüssel. Früher oder später wird sich die Region kein frisches Geld mehr leihen können ohne föderale Garantien. Dann wird N-VA-Premierminister Bart De Wever Auflagen machen können. Darüber werden die Brüsseler Politiker zweifellos murren. Aber nach 282 Tagen totaler Ohnmacht verdienen sie keinen Respekt mehr, sondern tiefe Verachtung, so das harsche Urteil von De Standaard.
Zum Haareraufen, eine Schande, unverantwortlich – und in Wahrheit fehlen die Worte, um die endlosen Brüsseler Verhandlungen zu beschreiben, wettert La Libre Belgique. Das Allgemeinwohl scheint zerquetscht zu werden unter den strategischen Spielchen von zunächst Ahmed Laaouej und nun der Open VLD. Gemeinschaftspolitisch gefärbte Zusammenstöße, Partikratie, das Kochen eigener Süppchen – hier sehen wir eigentlich die Quintessenz der Malaise der belgischen Politik. Es wird immer wahrscheinlicher, dass die Region Brüssel-Hauptstadt tatsächlich unter föderale Aufsicht gestellt werden wird. Was für ein Sprung ins Unbekannte, fasst sich La Libre Belgique an den Kopf.
Ruanda macht das Gleiche wie Russland
Zweites großes Thema ist der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Ruanda und Belgien: Es war ein Donnerschlag gestern, fasst Le Soir zusammen. Ruanda hat die belgischen Diplomaten ausgewiesen und Belgien beschuldigt durch Lügen und Manipulation das Land und die Region destabilisieren zu wollen.
Dieser Vorgang illustriert vor allem die Schwäche des Mannes, der in Ruanda seit 30 Jahren an der Macht ist, Paul Kagame. Und gerade in Belgien erinnert sein Verhalten stark an die letzten Tage des Mobutu-Regimes im Kongo. Kagame greift Belgien an, weil es vor allem Belgien ist, dass die militärische Unterstützung der M23-Rebellen im Kongo durch Ruanda anprangert. In Wahrheit ist es Kagame, der lügt und der sein Nachbarland destabilisiert. Das Verhalten Belgiens und der Europäischen Union hat auch nichts Neokoloniales, wie Kagame behauptet. Im Gegenteil: Hier geht es um internationales Recht und die Wahrung der territorialen Integrität des Kongo, unterstreicht Le Soir.
Erst letztes Jahr noch, im Februar, hat die Europäische Union ein Abkommen mit Ruanda unterzeichnet über den Export seltener und damit kritischer Rohstoffe, erinnert De Morgen. Kagames Politik ließ sich bisher vor allem so zusammenfassen: Mit Ruanda kann man gute Geschäfte machen – wenn man bereit ist, beide Augen zuzudrücken, was die autoritäre Herrschaft Kagames im eigenen Land und den Raub von Bodenschätzen aus dem Osten des Kongo angeht.
Die Stärke Kagames basierte immer auch auf der Schwäche seiner kongolesischen Gegenstücke, frei nach dem Motto: Lieber ein Deal mit dem ruandischen Autokraten als mit dem von Inkompetenz und Korruption zerrütteten Kongo. Aber diese Logik scheint nun auf Grenzen zu stoßen. Die Forderung, dass Ruanda sich aus dem Krieg im Nachbarland zurückzieht, ist auch absolut legitim. Dass Kagame Belgien deswegen Neokolonialismus und die Begünstigung von Völkermord vorwirft, ist lächerlich und abgedroschen.
Die Zeit ist reif, den Rohstoffdeal zwischen EU und Ruanda auszusetzen – auch wenn es ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt ist angesichts der Versorgungsschwierigkeiten Europas. Aber letztlich verhält sich Ruanda im Kongo nicht anders als Russland in der Ukraine, was den Raub von Bodenschätzen angeht, betont De Morgen.
Tafelsilber und Gold verkaufen wird nicht reichen
De Tijd befasst sich mit der Frage, wie die Erhöhung der belgischen Verteidigungsausgaben finanziert werden soll. Aktuell hofft die Föderalregierung vor allem auf die Milde der EU-Kommission, was das Ausklammern von Verteidigungsausgaben aus den Haushaltszielen betrifft. Gleichzeitig wird untersucht, welches Tafelsilber Belgien noch verkaufen könnte. Hier ist etwa die Rede von staatlichen Beteiligungen an Betrieben – und mittlerweile sogar von einem Verkauf eines Teils der belgischen Goldvorräte. Aber gerade Letzteres ist erstens nicht so einfach und zweitens auch anderweitig problematisch. Denn die Goldvorräte sind unser letzter Puffer für den Fall der Fälle, sie sind ein Anker des Vertrauens, der in finanziellen Stürmen überlebenswichtig sein kann.
Es ist zwar nachvollziehbar, dass nach angeblich schmerzfreien Lösungen gesucht wird, um mehr in die Landesverteidigung investieren zu können. Aber was dabei oft ausgeblendet wird, ist, dass es nicht um eine einmalige Anstrengung geht, sondern um wiederkehrende Belastungen. Wir werden jedes Jahr zusätzliche Milliarden für die Verteidigung finden müssen. Und vielleicht sogar noch mehr, als wir bisher glauben. Die echte Frage muss also lauten, was wir strukturell ändern können, um die Verteidigung zu stärken, mahnt De Tijd.
Boris Schmidt