"Die großen Gewerkschaften zeigen heute die Zähne", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad. "Die Gewerkschaften setzen die Regierung De Wever schon maximal unter Druck", titeln L'Echo und De Tijd. Le Soir hinterfragt die "Gründe für die Wut". Auch La Dernière Heure und L'Avenir haben mit Kundgebungsteilnehmern gesprochen: "Warum sie demonstrieren wollen", so die Schlagzeilen.
Die Gewerkschaften machen heute mobil. In Brüssel organisieren sie eine große Protestkundgebung gegen die Politik der neuen Regierung. Sie erwarten rund 50.000 Teilnehmer.
Es ist ein Protest gegen das "Unvermeidliche", giftet De Tijd in ihrem Leitartikel. Die neusten Bevölkerungsprognosen zeigen eindrucksvoll, wie sehr sich die Vergreisung beschleunigt. Schon 2030 wird die Zahl der über 67-Jährigen größer sein als die der Kinder und Jugendlichen unter 18. Klar: Es ist verständlich, gar menschlich, dass viele vor allem ihr eigenes Pensionsdatum vor Augen haben. Und natürlich hat niemand Lust, länger zu arbeiten. Aber was ist die Alternative? Auch von Gewerkschaftsseite hört man dazu nichts. Kein Wort darüber, welche anderen Optionen es gäbe, um dafür zu sorgen, dass unsere Sozialsysteme überleben. Nein! Stattdessen verteidigen sie weiterhin Vorteilsregelungen, wonach bestimmte Berufsgruppen immer noch mit 55 in den Ruhestand gehen können. Mit populistischen Slogans nach dem Motto "Lasst die Reichen bezahlen" ist es nicht getan.
Hohle Slogans
Gazet van Antwerpen sieht das ähnlich. Die Gewerkschaften spielen seit Jahrzehnten keine progressive Rolle mehr. Sie stehen im Wesentlichen für den Status Quo. Konkret: Menschen sollen weiterhin – je nach Sektor – mit 55 in Rente gehen können. Beamte dürften weiterhin am Ende ihrer Laufbahn ihre nicht gebrauchten Krankheitstage zu Hause absitzen, obgleich sie kerngesund sind. Angesichts der Vergreisungswelle, die auf uns zurollt, muss doch jeder einsehen, dass das nicht so weitergehen kann. Die Gewerkschaften wollen doch eigentlich für die Rechte und die Zukunft ihrer Mitglieder eintreten. Wenn sie das wirklich ernst meinen, dann müssen sie ihrer Basis ehrlich sagen, dass Reformen brotnötig sind. Hohle Slogans, die den Menschen weismachen, dass alles beim Alten bleiben kann, bringen uns keinen Schritt weiter.
"Eine Kundgebung des Konservatismus", zischt auch La Libre Belgique. Das Ganze mutet fast schon an wie ein "politischer Streik", bei dem es weniger um die Interessen der Mitglieder geht, sondern vor allem um die Verlierer der letzten Wahl. Wenn dem wirklich so ist, dann scheinen ebendiese Wahlverlierer das Signal vom 9. Juni nicht verstanden zu haben. Denn die Wähler haben offensichtlich für mehr Generationengerechtigkeit, eine Aufwertung der Arbeit und für die nötigen Strukturreformen gestimmt. Und was macht FGTB-Chef Thierry Bodson? Er kündigt vollmundig an, dass man im Zweifel "der Wirtschaft wehtun muss", damit die Forderungen gehört werden. Das ist absolut verantwortungslos. Der Konservatismus der Gewerkschaften ist ohnegleichen, wenn es darum geht, anachronistische Privilegien zu verteidigen. Statt eine konstruktive Grundhaltung einzunehmen, wollen sie ein ganzes Land in Geiselhaft nehmen.
Eine kontraproduktive Drohung
Le Soir fragt sich, wie lange die Gewerkschaften das durchhalten werden. Insbesondere die sozialistische FGTB hat einen "Marathon des Widerstands" angekündigt und will notfalls ihre Proteste während der gesamten Legislaturperiode fortführen. Das kann aber zum Problem werden, weil insbesondere die Interessen im Norden und im Süden des Landes mitunter anders gelagert sind. Außerdem scheint man zu vergessen, dass am 9. Juni viele Menschen eben für Reformen gestimmt haben, wie sie die Arizona-Koalition gerade beschlossen hat. Die Gewerkschaftsmauer kann also schnell Risse bekommen.
La Dernière Heure macht eine ähnliche Analyse. Vor zehn Jahren waren die Arbeitnehmerorganisationen auch gegen die sogenannte Schwedische Koalition Sturm gelaufen. Doch war ihnen schnell die Puste ausgegangen. Und erreicht haben sie nichts. Diesmal könnte dasselbe passieren, vor allem wegen der aktuellen Haushaltszwänge.
Diese Gefahr ist umso größer, wenn der eine oder andere über die Stränge schlägt, glaubt De Morgen. Wie etwa einige kleine, radikale Bahngewerkschaften, die allen Ernstes einen neuntägigen Streik bei der SNCB organisieren wollen. Diese Drohung ist so unverhältnismäßig, dass sie schon grotesk ist. Und das ist kontraproduktiv. Auf diese Weise diskreditieren die kleinen Gewerkschaften nämlich gleich jegliche Kritik an dem Regierungsabkommen, die teilweise durchaus legitim ist. Denn die Menschen machen keinen Unterschied: Die Gewerkschaften sind eben die Gewerkschaften. Weil einige ihr Blatt überreizen, werden also alle anderen verunglimpft. Und die Arizona-Regierung sagt: Vielen Dank!
USA verprellen Europa
Natürlich beschäftigen sich viele Zeitungen aber auch mit dem Telefonat zwischen US-Präsident Trump und Kreml-Chef Putin. "Putin und Trump beginnen mit Verhandlungen über ein Ende des Krieges in der Ukraine", so etwa die Schlagzeile von Gazet van Antwerpen und De Tijd. "Wer wird dabei gewinnen?", fragt sich aber schon De Morgen.
Die Regierung Trump hat ihre Absichten schon sehr schnell sehr deutlich gemacht, konstatiert Het Nieuwsblad in seinem Kommentar. Erste und für uns wichtigste Feststellung: Europa kommt in den Planspielen nicht vor. Die USA verprellen ihre bisherigen Verbündeten. Das gilt auch für die Ukraine, denn der neue US-Verteidigungsminister hat schon zu verstehen gegeben, dass eine Rückkehr zu den Grenzen von 2014 "unrealistisch" sei. Brüssel, Paris, London oder Berlin wurden dabei gar nicht erst gefragt.
Eine geschäftliche Transaktion
"Die Zeit der Illusionen hat ein Ende", kann auch das GrenzEcho nur feststellen. Erstens: Die USA haben die Ukraine nach rund drei Jahren der russischen Invasion de facto fallengelassen. Und zweitens: Die europäischen Nato-Partner wurden dabei regelrecht desavouiert, die Risse in der transatlantischen Partnerschaft sind nicht mehr zu übersehen. Die Europäer stehen jetzt vor einer bitteren Wahl: Entweder sie übernehmen die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit, und das in Zeiten angespannter Haushaltslagen. Oder sie klammern sich weiter an eine Schutzmacht, die aber längst nicht mehr verlässlich ist.
De Standaard greift noch einen anderen Aspekt heraus: Es sieht ganz danach aus, dass es dem US-Präsidenten eigentlich nur um die Bodenschätze geht. Zugegeben: Es war die Ukraine selbst, die dieses Argument ins Spiel gebracht hatte. Dennoch: Plötzlich wird der Frieden in der Ukraine zu einer geschäftlichen Transaktion. Hier geht es nicht mehr um Demokratie, sondern um Rohstoffe. Ein Deal auf dieser Grundlage kann vielleicht die Gewalt beenden, ein Rezept für einen stabilen Frieden ist das aber nicht.
Roger Pint